Der Berg Karmel in der Bibel
P. Roberto Fornara

Die Ortschaft Karmel in Judäa, südlich von Hebron

Im NT wird der Berg Karmel nicht erwähnt: kein Ereignis der Evangelien wird mit ihm in Verbindung gebracht, obwohl die Tätigkeit Jesu sich über ganz Galiläa erstreckt. In den zahlreichen Parabeln verwendet Jesus nie diesen Berg als Symbol, ebensowenig erwähnen ihn die Paulusbriefe und die übrigen neutestamentlichen Schriften. (Neuere und neueste Studien haben zwar zu beweisen versucht, daß der Karmel ein neutestamentlicher Ort ist; es ist jedoch nicht gelungen, überzeugende und stichhaltige Beweise dafür zu erbringen.)

In der Sicht des AT hingegen nimmt der Karmel eine einigermaßen bedeutende Stellung ein. Die biblischen Landschaften, die diesen Namen tragen, sind einerseits die bedeutendste Gebirgskette im Norden Palästinas und andererseits ein Dorf in Judäa, etwa zehn Kilometer von Hebron entfernt, das auch den umliegenden Hügeln den Namen gibt. Für uns ist nur das erste von Bedeutung: der Berg als Schauplatz bedeutender alttestamentlicher Ereignisse, der schon in den biblischen Büchern zu einem Symbol und zu einer Metapher wurde. Es handelt sich um den Ort, an dem sich die ersten karmelitanischen Einsiedler niederließen und der in der Geschichte des geistlichen Schrifttums des Ordens eine große Bedeutung erlangen wird. Es kann nicht geleugnet werden, daß - innerhalb des Alten Testaments - die Geschichte des Karmel fast ausschließlich mit den Ereignissen der beiden Propheten Elija und Elischa in Verbindung gebracht wird. Die gesamte christliche Überlieferung hat darauf hingewiesen, daß der Berg in Palästina und der Elijanische Zyklus zusammengehören. Schon Gregor von Nyssa konnte darum schreiben: "Elija lebte auf dem Berg Karmel, der berühmt und von Glanz umgeben ist, vor allem wegen der Kraft und der Hochschätzung dessen, der hier gelebt hat" (PG, XLVI, 594). Wir wollen jedoch diesen Hinweis zunächst übergehen, da wir ihn an anderer Stelle ausführlich behandeln. Was uns jetzt beschäftigen soll, sind die Texte im Alten Testament, in denen das Wort "Karmel" verwendet wird, um die Wichtigkeit und Bedeutung hervorzuheben, vor allem wenn es (wie bei vielen anderen Orten und Dingen in Palästina), als sprachlicher Ausdruck oder Symbol verwendet wird, um etwas anderes besser erklären zu können.

Eine erste Überlegung liegt nahe, wenn wir von "Berg" als einer geographischen Wirklichkeit sprechen und bedenken, welche Bedeutung diesen Orten in allen Religionen - und ganz besonders im Altertum - zukam. In allen Kulturen - vor allem in den alten - war der Berg immer etwas Heiliges, Sakrales, ein Ort, an dem man sich Gott unmittelbar nahe wußte, vielleicht wegen der Höhe oder wegen der Unzugänglichkeit an manchen Stellen. Die Archäologie und andere ergänzende Wissenschaften konnten beweisen, daß der Berg Karmel schon im Altertum als sakraler Ort bekannt war. (Es ist sicher allen bekannt, daß mit dem Berg Karmel nicht ein einsamer Berggipfel gemeint ist, sondern daß es sich um eine ca. 25 km lange und ca. 6 km breite Gebirgskette handelt.) Die Tatsache, daß in der Zeit der Elija-Erzählungen keine menschlichen Bewohner auf dem Berg nachgewiesen werden konnten, wäre ebenfalls ein Beweis für die Heiligkeit des Ortes (die ersten besiedelten Gebiete waren vorzugsweise die Ebenen und die Küste, wenn auch bei der Eroberung des Landes das Gebirge Juda als erstes bevölkert wurde). Weitere Dokumente bezeugen, daß der Berg auch in den folgenden Epochen eine Kultstätte war.

Eine Inschrift vom Ende des 4. Jh. v. Chr. z. B. spricht vom Karmel als von einem dem Zeus geweihten Berg. (Foto: Haifa, Konvent Stella Maris, Museum. Ein Fuß als Votivgabe vom 2.-3. Jh. n. Chr., bei archäologischen Ausgrabungen auf dem Berg Karmel gefunden. Der engravierte Text preist die Gottheit als "Zeus Carmelus Helipolitanus")

Die Geschichtsschreiber Tacitus und Sueton bestätigen, daß es einen dem Zeus geweihten Altar gegeben hat und daß eine Votivgabe, d. h. ein Fuß, gefunden wurde, der Zeus gewidmet ist und die Inschrift trägt: "Zeus Carmelus Heliopolitanus (2. - 3. Jh. n. Chr.)

Diese Notiz beweist, daß der Berg im Lauf der Jahrhunderte ein Kultort geblieben ist. Nach Meinung der Gelehrten könnte man auch Nachforschungen anstellen über das griechische Gegenstück des im Altertum verehrten Baal, der in der Bibel neben JHWH erwähnt wird (vgl. 1 Kön 18,20-40; 2 Kön 4,25).

Über die genaue Etymologie des Wortes "Karmel" und seine genaue Bedeutung sind sich die Philologen noch immer nicht einig. Die überwiegende Mehrheit der Gelehrten meint, daß das hebräische Wort "Karmel" etwas zu tun hat mit der Wurzel "krm" (der nur ein "l" hinzugefügt wird, was in der hebräischen Sprache nicht selten vorkommt) - damit wäre eine gewisse Verwandtschaft aufgezeigt mit dem anderen Wort "kerem", was "Weinberg" heißt. Daß aber "Karmel" ausdrücklich "Weinberg" bedeutet oder - wie die Übersetzer zuweilen empfehlen - "Garten, Gartenanlage", steht mit einer aufmerksamen Lektüre der biblischen Texte, in denen das Wort vorkommt, nicht immer im Einklang. Mehrere Jahrhunderte hindurch - vor allem in der geistlichen Tradition des Ordens - bevorzugte man die Hypothese, die den Ursprung des Wortes "Karmel" als eine Zusammensetzung von "kerem" + "´el" (der Name für Gott, daher "Weinberg", "Garten" Gottes) erklärte. So sympathisch diese Erklärung auch sein mag, grammatikalisch ist sie absolut unhaltbar, ebensowenig beim vergleichenden Studium verschiedener Texte. Schon Origenes (dem Hieronymus zum Teil folgte) hat Phantasie-Behauptungen aufgestellt. Er hat zwei irgendwie ähnliche Wortstämme zusammengeschoben und dem Karmel dann die unverständliche und phantastische Erklärung gegeben: "Wissenschaft der Beschneidung".

Es ist das Verdienst von Pater Joüon, der in seiner philologischen Analyse mit mehr Sachlichkeit arbeitet, und vor allem von P. E. Friedmann, der mit mehr Feingefühl an die (Welt der) Exegese und an die hebräische Kultur herangeht, die Nachforschungen ins rechte Licht zu rücken. Das hebräische Wort "karmel" wäre nach diesen beiden Gelehrten gleichbedeutend mit einer besonderen Art von Vegetation. Diese befindet sich zwischen "midbar" (d. h. Steppe, eine eher trockene und fast wüstenähnliche Zone) und dem "ya´ar" (einen Wald mit hohen Bäumen, wie z. B. die Berge des Libanon mit ihren Zedern). Der biblische Hebräer bezeichnet also mit "Karmel" ein Gestrüpp, eine Waldung mit reicher Vegetation, die aber vor allem aus Sträuchern und kleinen Bäumchen besteht. Diese Erklärung von P. E. Friedmann paßt übrigens genau zu dem Bild, das die Vegetation auf dem Berg Karmel bietet. Wer diese Region besucht hat, wird sich an die typischen Pflanzen und Gewächse am Mittelmeer erinnern, vor allem an Sträucher und wilde Früchte. Auch heute noch befinden sich hier sehr wenige Wohnhäuser, und die Dörfer der Drusen sind ebenso selten, denn der Erdboden bietet wohl Weide für das Vieh, ist aber für den Ackerbau nicht geeignet. Die wenigen vorhandenen Äcker sind nur der zähen und harten Arbeit der Menschen zu verdanken. Die häufigen Regenfälle hingegen haben immer das Wachstum einer üppigen, prachtvollen Vegetation gefördert. Die Bibel selbst bezeugt die verschiedenen Arten von Vegetation. Die drei erwähnten Ausdrücke kommen immer wieder vor, so daß man bei bestimmten Texten fast den Eindruck hat, als handle es sich um eine literarische Form. In Jes 32,15 z. B. bezeichnen die drei Vegetationsformen eine ständig fortschreitende Herrlichkeit und Fruchtbarkeit: "Dann wird zum Fruchtgarten die Steppe; der Fruchtgarten aber gilt als Wald."

Ein Text, der sich in der christlichen Tradition großer Beliebtheit erfreute - und vor allem in der marianischen Spiritualität des Karmel (der berühmte lateinische Ausdruck "caput tuum ut Carmelus"), ist die Stelle im Hohelied 7,6. Der Bräutigam beschreibt die Schönheit seiner Geliebten auf typisch orientalische Art und verwendet dabei Vergleiche aus der Natur. Im Vers 6 erklärt er: "Dein Haupt gleicht oben dem Karmel; wie Purpur sind deine Haare." Einige Exegeten wollen den Parallelismus zwischen den beiden Vergleichen hervorheben (Karmel/Purpur) und lesen auch im ersten Fall nicht "karmel", sondern "karmil" (Purpur): diese unpassende Wiederholung hat jedoch nicht viel Sinn. Der Hinweis auf geographische Gegebenheiten scheint demgegenüber ganz natürlich. Beim Vergleich mit der Geliebten wurden nämlich bis zu dieser Stelle geographische Symbole herangezogen, und die Beschreibung, die bei den Füßen begann, ist nun bis zur Nase gekommen (Vers 5). Für einen guten Kenner der Erdkunde Palästinas war es ziemlich leicht, an die Nase eines Mädchens zu denken, wenn er die eigenartige Form des Karmelvorgebirges betrachtete, das bei Haifa steil abfällt. (Tatsächlich nennen die Araber den Karmel "anf el-jebel", "die Nase des Gebirges".)

Haifa. Das Vorgebirge des Karmel von der Küste aus gesehen. Wegen seiner Form wird es von den Arabern "anf el-jebel" - Bergnase - genannt.

Es lag ebenso nahe, an die Haare der Geliebten zu denken, wenn man die üppige und dichte Vegetation sah, die den süd-östlichen Abhang des Karmel bedeckt. Das Eigenartige eines solchen Vergleiches darf uns nicht schockieren, denn die biblische Dichtkunst ist von unseren lyrischen und ästhetischen Empfindungen Lichtjahre entfernt. (vgl. Hld 4,1: "Dein Haar gleicht einer Herde von Ziegen, die herabzieht von Gileads Bergen"!)

Wir kehren zu unserem Text zurück und stellen fest, daß die griechische Übersetzung (Septuaginta) und die lateinische (Vulgata) diese geographischen Vergleiche wortwörtlich übersetzen. Die hebräische Überlieferung hat den genannten Vers 7 immer erklärt und ihn mit dem Berg Karmel und mit dem Propheten Elija in Verbindung gebracht, indem sie unter Hinweis auf Alliterationen und Wortspiele eine allegorische Auslegung bevorzugte: "Es sprach der Heilige - Er sei gepriesen - zu Israel: Dein Haupt (ro´shek) über dir ist wie der Karmel: die Armen (rashim) in deiner Mitte sind Mir teuer wie Elija, der auf den Berg Karmel stieg" Cant. Rabba VII; 6,1).

Andererseits ist ein solcher Vergleich der biblischen Ausdrucksweise nicht ganz fremd. Es kann sich - wie es tatsächlich in unserem Fall zutrifft - um ein Wortspiel handeln mit dem zweifachen Sinn des Ausdrucks ro´sh (Haupt: als Kopf eines Menschen oder als ein Vorgebirge). Das Wort "ro´sh hakkarmel" wird mehrmals verwendet, um das Vorgebirge des Karmel (das bei Haifa steil abfällt) oder irgendeinen Gipfel des Gebirgszuges zu bezeichnen.

In ihrem feinen, poetischen Einfühlungsvermögen spielen die biblischen Autoren also mit dem Bild des Karmel, wenn sie die Vorstellung von Schönheit und Fruchtbarkeit beschreiben wollen. Wegen der reichen Vegetation, wegen seiner grünen Bäume und Sträucher, wegen der Vielfalt von Blumen, Pflanzen und Tieren ist der Karmel in der Bibel ein Land von großer und seltener Schönheit. Die Propheten weisen häufig auf diesen Zusammenhang hin. Besonders typisch ist die Stelle bei Jes 35,1-2. Der Dichter will mit eindrucksvollen Bildern den herrlichen Triumph Jerusalems und die Freude über die Rückkehr nach Zion schildern und schreibt: "Die Wüste und das trockene Land sollen sich freuen, die Steppe soll jubeln und blühen. Sie soll prächtig blühen wie eine Lilie, jubeln soll sie, jubeln und jauchzen. Die Herrlichkeit des Libanon wird ihr geschenkt, die Pracht des Karmel und der Ebene Scharon. Man wird die Herrlichkeit des Herrn sehen, die Pracht unseres Gottes."

L. Alonso Schöckel bemerkt zum Ausdruck "blühen": Es ist dies die Freude der Vegetation, die in Formen und Farben zum Ausdruck kommt. Die Pracht der Bäume und Pflanzungen ist wie ein Widerschein der Herrlichkeit und Schönheit des Herrn."

Wenn die Menschheitsgeschichte und die gesamte Natur für den Israeliten vor allem eine Theophanie, eine Offenbarung Gottes, sind, oder noch besser: eine Gotteserscheinung, ein Hindurchschimmern Seiner Schönheit und Seines Glanzes, dann versteht man auch, daß der Schriftsteller zum "Karmel" greift, weil dieser das natürlichste Bild ist, das ihm zur Verfügung steht, um den Glanz göttlicher Herrlichkeit zu besingen. Es wäre noch darauf hinzuweisen, daß die Pracht und die Schönheit des Karmel und seine Vegetation Symbol sind, um die Schönheit des neuen Jerusalem zu schildern. Die wirkliche geographische Landschaft übersteigt also den Glanz und die Schönheit der heiligen Stadt. Wahrlich, der Prophet dürfte nichts Strahlenderes gekannt haben als den Karmel in der Fülle seiner Prachtentfaltung!

Als Landschaft von seltener Schönheit wird der Berg Karmel auch zum Symbol üppiger Fruchtbarkeit, reizvoller Anmut und beglückenden Gedeihens wegen seiner an Vegetation reichen Höhenzüge, wegen der dichten Wälder und des Reichtums an verschiedenen Gewächsen. Es handelt sich nicht um eine Feststellung in absolutem Sinn, denn - das wurde schon betont - die Hügel des Karmel sind z. B. nicht für Ackerbau geeignet, sondern bieten vor allem Weideplätze. Bei Jer 50,19 lesen wir: "Israel aber bringe ich zurück auf seinen Weideplatz; es soll auf dem Karmel und im Baschan weiden."

Die Bodenbeschaffenheit dieses Gebietes ist nämlich so, daß die Pflanzenwelt eher spontan und wild gedeiht - ohne Zutun des Menschen. Jesaja warnt sein Volk vor einer rein menschlichen Bündnispolitik und fordert es auf, umzukehren und sein Vertrauen allein auf den Bund mit Gott zu setzen. In wenigen Versen beschreibt er sodann die überreichen Früchte der Bekehrung und die Ausgießung des Geistes: "... dann wird die Wüste zum Garten (karmel), und der Garten (karmel) wird zu einem Wald. In der Wüste wohnt das Recht, die Gerechtigkeit weilt in den Gärten (karmel)" (Jes 32,15-16). In Jes 29,17 lesen wir: "Nur noch kurze Zeit, dann verwandelt sich der Libanon in einen Garten (karmel), und der Garten (karmel) wird zu einem Wald."

Es ist die Macht Gottes, die Wiederherstellung einer rechten Beziehung zu Ihm, die dem Menschen Fruchtbarkeit und Wohlergehen gewährleisten kann. Auch wenn hier der Ausdruck "karmel" kein Eigenname, sondern nur ein Gattungsname ist, um einen Wald zu bezeichnen, hat die griechische Übersetzung (Septuaginta) es bevorzugt, das Bild konkret mit dem Berg Karmel in Verbindung zu bringen. Es heißt dort: "Dann wird die Wüste zum Karmel und der Karmel wird dem Walde gleich geachtet. Und in der Wüste wird das Recht wohnen und die Gerechtigkeit wird auf dem Karmel thronen" (Jes 32,15-16). Übrigens verweist die Ordensregel der Karmeliten auf diesen Text und zitiert ausdrücklich den Vers 17, wo vom Stillschweigen gesprochen wird. Auch wenn der Gesetzgeber von der lateinischen Übersetzung ausgeht, die in keiner Weise vom Berg Karmel spricht, wäre es vielleicht interessant nachzuforschen, ob ein Zusammenhang mit dem hebräischen oder griechischen Originaltext möglich ist: die Bibel hätte dem Verfasser der Regel die Vorstellung des von der Macht Gottes verklärten Berges Karmel vermittelt, die von diesem Ort sagt, daß Friede und Sicherheit denen gewährt wird, die sich allein IHM anvertrauen. Doch dies würde den Rahmen unserer Studie sprengen.

Zur Symbolik des Karmel