Marianisches Charisma des Karmel
P. Nilo Geagea


Faszinierend und zugleich tröstlich ist ein Überblick über die Verschiedenheit in der Einheit, die die Art und Weise der Marienverehrung der einzelnen religiösen Gemeinschaften im Schoß der Kirche bietet. Unter denen, die mit besonderem Eifer der Marienverehrung den Vorzug geben, nehmen die Karmeliten, ohne andere in den Schatten stellen zu wollen, sicher einen Ehrenplatz ein. Sie sind ein religiöses Institut, das ganz marianisch sein will, entsprechend dem traditionellen Ausspruch: "Totus marianus est Carmelus."

Zum ersten Mal rechtfertigte der Orden offiziell seinen marianischen Namen in der "Rubrica prima", einem Text, der den in Barcelona im Jahr 1324 verfaßten Konstitutionen beigegeben wurde. Zur Bekräftigung wurden drei Verben verwendet: construxerunt, elegerunt, vocati sunt, d. h. sie erbauten auf dem Berg Karmel eine kleine Kirche zu Ehren der seligsten Jungfrau, sie wählten Maria zur Schutzherrin und Patronin, sie nannten sich "Brüder der seligen Maria". Diese drei Verben sind eng miteinander verflochten - wie Ursache und Wirkung. Sie bezeichnen - im ganzen gesehen - dieselbe Tatsache, die aber eine dreifache kurvenreiche geschichtliche, psychologische und juristische Entwicklung in sich schließt. Diese von den Unsrigen offiziell bekräftigte symbolische Begründung ist von höchster Bedeutung, denn sie weist kurz und bündig hin auf die wesentliche Grundlage der Beziehung zwischen Karmel und Maria.

Das Thema behandelt also direkt den vitalen Einfluß des karmelitanischen Charismas auf die Gestaltung der marianischen Spiritualität des Karmel. Es wird außerdem versucht, die aufeinander folgenden Phasen der Beeinflussung auf Grund von zwei wesentlichen Gegebenheiten hervorzuheben: den spezifischen Charakter des karmelitanischen Charismas als Ursache; die Entwicklung der Marienverehrung, die daraus hervorgeht, als Wirkung.


Das karmelitanische Charisma

Im Hinblick auf den geschichtlichen Ursprung sind die Karmeliten gegenüber anderen, bevorzugteren religiösen Gemeinschaften im Nachteil. Sie haben nämlich nicht das Glück, ihren wahren Stifter, den geschichtlichen Gründer, zu kennen. Sie wissen nicht einmal seinen Namen. Noch weniger ist ihnen die genau umschriebene Art seines persönlichen Charismas bekannt. Recht wenig helfen uns die Feststellungen in den überlieferten Dokumenten weiter. Aus allem ergeben sich nur mehr oder weniger diese spärlichen Hinweise: In der zweiten Hälfte des 12.. Jh. - das genaue Jahr ist unbekannt - ließen sich einige ungenannte "Pilger" oder Wallfahrer in das Heilige Land - "Devoti Deo peregrini" - auf dem Berg Karmel neben der Quelle des Elija in der Absicht nieder, hier "laudabiliter in sancta poenitentia" in einem streng eremitisch-kontemplativen Stil zu leben. Ihrer ursprünglichen inneren Eingebung folgend, lebten sie mit Entschiedenheit in einer vertikalen, theozentrischen, christologischen Ausrichtung, die erfüllt war von Glaube, Hoffnung und Liebe. Erst später kam als Bereicherung auch die horizontale Ausrichtung hinzu, nämlich die Ausübung des apostolischen Dienstes, sobald das Institut unter die "Bettelorden" eingereiht wurde.

Die vertikale Ausrichtung ging im Lauf der Jahrhunderte niemals verloren. Im Gegenteil, sie blühte so sehr auf, daß daraus sogar eine typische Spiritualität hervorgehen konnte. Ja, noch mehr: es entstand eine eigene "Schule der Spiritualität", deren Anführer die beiden Kirchenlehrer waren: Teresa von Jesus und Johannes vom Kreuz. Paul VI. nannte sie "zwei große Lehrer der katholischen Mystik". Es gibt also zwei Begründer des karmelitanischen Charismas. Für unsere Darlegung ist dies allerdings nur ein Bestandteil, nämlich die Vertikale. Das karmelitanische Charisma hat sich langsam entfaltet, und darum mußte auch die rituelle Entwicklung stufenweise erfolgen. Genauer gesagt: es geschah im gleichen und direkten Verhältnis zu einer intensiv gelebten religiösen Erfahrung.

Gegen Ende des 14 Jh. umschreibt der katalanische Provinzial Felipe Ribot in einleuchtender Weise die vollendete Konkretisierung des Charismas: "Dieses Leben in der Nachfolge des Elija hat ein zweifaches Ziel. Das eine besteht darin, daß wir Gott ein reines und heiliges Herz anbieten, das frei ist von jeder Sünde. Dies können wir - mit Hilfe der göttlichen Gnade - durch eigene Anstrengung und durch die Übung der Tugenden erreichen, indem wir uns in allem von der Liebe leiten lassen. Das andere Ziel dieser Lebensweise hingegen übersteigt unsere Kräfte und wird uns als unverdientes Geschenk von Gott gegeben. Es besteht darin, daß wir nicht erst nach dem Tod, sondern schon in diesem sterblichen Leben ein wenig die Kraft der göttlichen Gegenwart erfahren und die Freude der himmlischen Herrlichkeit in unserem Herzen verkosten."

In der geistlichen Überlieferung des Ordens ist dieses Ideal von solcher Bedeutung, daß es niemals vergessen, ausgeklammert oder ersetzt werden kann. Ein Ziel, das sich in der psychologischen Ausstrahlung der Heiligen des Karmel, die dieses Ideal konkret gelebt haben, zeigt und dem wir in den Schriften der Karmeliten nachspüren können. Ich erinnere nur an drei Schwerpunkte: eine ausgeprägte Neigung zur Innerlichkeit, eine leidenschaftliche Suche nach Freundschaft, eine verzehrende Sehnsucht nach Vertrautheit. Diese drei inneren Antriebskräfte haben das geistliche Leben der Unsrigen bis ins Innerste so sehr beeinflußt und geprägt, daß sich eine dem Karmel ganz eigene marianische Spiritualität entfalten konnte. Sie ist mehr als eine allgemeine Verehrung Mariens im Karmel, nämlich eine typisch "karmelitanische" Hingabe an die seligste Jungfrau.

Es muß darauf hingewiesen werden, daß diese drei Antriebskräfte ihre letzte Erfüllung und Steigerung in der mystischen Erfahrung finden: dem erhabensten Gipfel des karmelitanischen Charismas. Sie finden aber auch eine analoge Erfüllung in einer mystischen Erfahrung Mariens: einer Erfahrung, die den besonders bevorzugten Kontemplativen geschenkt wird.


Toledo. Kirche des hl. Petrus des Märtyrers. "Maria, Mutter und Zierde des Karmel". Ausschnitt aus einem Bild, das aller Wahrscheinlichkeit nach aus dem nicht mehr existierenden Karmelkloster stammt. Maria beschützt auf vielfältige Weise den ihr geweihten Orden. Unten von links: Elija, im Habit der Karmeliten, zeigt den Söhnen der Propheten die kleine Wolke, Symbol der Unbefleckten Jungfrau.


Organische Entwicklung

Die vertikale - theozentrische - Ausrichtung der ersten Väter des Karmel nahm in der Praxis drei Formen an, die in der Art des Kultes ihren Niederschlag fanden. Diese Arten selbst weisen eine Entwicklung auf:
  • eine christologische Prägung, welche die Bereitschaft in sich schloß, in der Gefolgschaft Christi, des Gebieters des Heiligen Landes, und entsprechend der feudalen Mentalität der Zeit, zu leben. Diese Bereitschaft eiferte den Karmeliten an, dem Herrn ähnlich zu werden, und zwar vor allem auf zwei Weisen: betend und leidend;
  • eine elijanische Prägung, die nicht durch direkte Kontakte mit der orientalischen Spiritualität, sondern höchstwahrscheinlich wegen der räumlichen Nähe zur "Quelle des Elija" entstanden ist. Eine diesbezüglich irrige Auffassung allerdings gab Anlaß zu harten Auseinandersetzungen und ließ vergeblich Tintenströme fließen;
  • eine marianische Prägung, von der im folgenden die Rede ist.

Wir gehen von einem geschichtlich sicheren Rahmen aus, den mehrere Schriftsteller aus unseren Reihen ausdrücklich bekräftigen, d. h. von einer besonderen Marienverehrung, die unsere ersten Einsiedler liebevoll pflegten. Von schlagender Beweiskraft ist die Tatsache, daß sie bei der Wahl eines "Titels" für das Oratorium ohne den geringsten Zweifel Maria wählten. Der Bau eines Oratoriums war ihnen nämlich durch die Lebensordnung vorgeschrieben worden, die Albert, der Patriarch von Jerusalem, für sie verfaßt hatte. Daß sie dieser Wahl den Vorzug gaben, ist von höchster Bedeutung, vor allem, wenn man dies im Umfeld des damaligen Feudalismus betrachtet.

Auf diese Weise rechtfertigten sie nicht nur ihren Namen "Brüder der seligen Maria" entsprechend dem kirchlichen Sprichwort: "Ex ecclesia, cuius sunt ministri, denominantur religiosi", sondern darüberhinaus senkte diese Geste der Zuneigung, die in der Wahl des Namens zum Ausdruck kommt, in den fruchtbaren Boden der Marienverehrung einen neuen Samen. Aus diesem wuchs ein kräftiger, riesengroßer Stamm, wie wir ihn heute haben, nämlich "die Verehrung Unserer Lieben Frau vom Berge Karmel" - "die Skapulierfrömmigkeit", von der Pius XII. erklärte, sie sei unter den Gläubigen sehr verbreitet; Paul VI. nannte sie sogar "eine kirchliche Frömmigkeitsübung", die katholisch und ökumenisch ist.

Der winzige Same - "das Senfkorn des Evangeliums" - bezeichnet nicht nur die geschichtlichen Anfänge der marianischen Spiritualität im Karmel, sondern trug auch schon im Keim die ganz besondere Eigenart in sich. In der Kraft seiner eigenen Dynamik war dieser "Same" auf Entfaltung hin angelegt. Dennoch konnten das Wachstum und seine vitale Entfaltung erst nach einschneidenden ganz bestimmten Faktoren einsetzen. Dazu gehört vor allem der doktrinale Aspekt, der jeder beliebigen echten Form des marianischen Kultes gemeinsam ist. Ein zweiter Faktor ist das karmelitanische Charisma, das das geschichtliche Umfeld zeigt.

Der Einfluß dieses zweiten Faktors muß unvermeidlich und entscheidend gewesen sein. In der Tat: ein im Umkreis einer geistlichen Gemeinschaft gewachsener marianischer Kult kann nicht mit einer Feld- oder Wiesenblume verglichen werden, sondern mit einer im Glashaus gezüchteten Blüte: einer Blüte, die liebevoll gehegt und gepflegt wurde und die ihre Nahrung aus einem eigens zusammengesetzten Humus erhielt: dieser Humus ist - insgesamt gesehen - das "propositum" oder das Charisma des Gründers, und deshalb die ursprüngliche Inspiration, nach der die Gefährten im Einklang mit dem entsprechenden Gründer leben.

Wir betrachten nun die einzelnen Phasen dieser Entwicklung.


Maria als "Patronin"

Durch das ganze 13. Jh. hindurch - dem ersten Abschnitt unserer Geschichte - hatte das karmelitanische Charisma noch nicht seine ganze Reife und lebenssprühende Fülle erreicht. Deshalb war die marianische Frömmigkeit der Religiosen fast ausschließlich von einem damals vorherrschenden äußeren Faktor geprägt, nämlich von der Mentalität der Feudalherrschaft. Im Hinblick darauf ist verständlich, weshalb die Unsrigen in Maria vor allem die Herrin verehrten, indem sie in ihr die Frau, die Gebieterin und die Schutzherrin mit ihrer Aufgabe als Fürbitterin sahen.

Da die Unsrigen als Feinde jeder Oberflächlichkeit fast instinktiv zur Innerlichkeit hingezogen sind, setzten sie ihren ganzen Eifer ein, um die marianische "Schutzherrschaft" in ihrer ganzen Tiefe auszuloten und dementsprechend zu leben. Auf diese Weise konnte es nicht lange dauern, bis zwei fest begründete Überzeugungen reiften: die erste war das Wissen um die totale Abhängigkeit von Maria, die zweite zeigte sich in der ganz auf Maria ausgerichteten ursprünglichen Gründung.

Das erste war also eine totale, bedingungslose und unwiderrufliche Zugehörigkeit zur seligen Jungfrau. Diese Haltung war fest verwurzelt in der Widmung des ersten Oratoriums und in ihrer persönlichen "Weihe", die sie bei der Profeß zum Ausdruck brachten und die direkt an Gott und an die "seligste Jungfrau Maria vom Berg Karmel" gerichtet war. Tatsächlich versprach man ausdrücklich nur "Gehorsam", der aber - als Synonym der monastischen Zucht - den Ablauf des gesamten irdischen Lebens umfaßte.

Praktisch umschloß diese Zugehörigkeit den gesamten Orden, in materieller und geistlicher Hinsicht, so daß Maria die volle Herrschaft über den Karmel zuerkannt wurde; sie war die "Domina loci", die Gebieterin des Ortes im ganzen Ausmaß der Bedeutung dieses Ausdrucks; sie war Herrin des Karmel, die Eigentümerin und Schutzherrin schlechthin. Die ganze "Pracht" des Karmel: ihr - Maria - ist sie nach göttlichem Ratschluß geschenkt: "Datus est ei decor Carmeli". Ihr gehören darum die Konvente des Ordens; ihr die Kirchen; das Skapulier ist ihr Kleid, das Kleid des Ordens; ihr gehört der weiße Mantel, das Unterscheidungszeichen unseres Ordens; ihr gehören in besonderer Weise die Personen als Mitglieder des Ordens: Elija und Elischa mit ihren unzähligen Nachfolgern. Kurz: der Karmel ist die ganz besondere "Familie" Mariens. Er ist ihr Eigentum, ihr persönlicher Besitz; er ist ihr Lehngut, ihr Land, über das sie unbestritten verfügen kann. (Bild: Haifa, Konvent Stella Maris. Frater Luigi Poggi: "Das Samstagprivileg". Das Karmelskapulier ist ein Zeichen für den Schutz Mariens).

Die zweite herangereifte Überzeugung ist die ganz auf Maria ausgerichtete Gründung des Ordens, so daß er schon auf Grund der ursprünglichen Absicht verpflichtet ist, eine intensive Verehrung der Mutter Gottes zu fördern und zu verbreiten. Da sie unwiderleglich Gebieterin und Schutzherrin ist, ist es nicht genug, wenn die organisierte Gesamtheit des Karmel um ihre Verehrung bemüht ist. Auch jede Art von Wirken der Söhne des Karmel muß dieses Ziel vor Augen haben. Ihr gehört alles Edle, Gute und Heilige, das in den Gärten des Karmel keimt und wächst, und zwar von Anfang an und durch alle Jahrhunderte hindurch, ohne irgendeine Einschränkung, so daß sie als letztes, bestimmendes Ziel selbst der "Pflanzung" des Ordens angesehen werden muß.

Diese Überzeugung verbreitete sich schon seit dem Jahr 1282 auf Betreiben eines Generalpriors, Pierre de Millau; fünf Jahre später - 1287 - kam auch das in Montpellier abgehaltene Generalkapitel zur selben Einsicht. In der ersten Hälfte des folgenden Jahrhunderts, um das Jahr 1327, entschloß sich John Baconthorpe sogar, eine eigene kleine Schrift zu verfassen, die den bezeichnenden Titel trug: "De institutione Ordinis Carmelitarum ad venerationem beatae Virginis Mariae Deiparae."


Maria als "Mutter"

Der offenkundige Übergang zu einer noch größeren Vertrautheit ereignete sich in den ersten Jahrzehnten des 14 Jh. infolge des nun zur Fülle der Reife und Lebendigkeit herangereiften karmelitanischen Charismas. An einem bestimmten Punkt ihrer religiösen Erfahrung mußten die Unsrigen ein schmerzvolles Unbehagen in der Beziehung zur seligsten Jungfrau empfinden. Es machte sich das Bedürfnis nach mehr Herzlichkeit und Wärme bemerkbar. Die Brüder merkten, daß einerseits die Schutzherrschaft Mariens - unter der die Ordensprofeß abgelegt wurde und die ihre Parallele in einem juristischen Vertrag des feudalen Brauchtums zu haben schien - und andererseits die daraus folgende Haltung eines "Knechtes" allmählich unbefriedigend waren und zu dem, wonach sie sich sehnten, nicht paßten.

Sie steuerten deshalb bald darauf zu, in Maria mehr eine Mutter als eine Schutzherrin zu sehen und sich selbst nicht als Vasallen, sondern als Söhne zu betrachten. Die Folge davon war ein Kurswechsel zugunsten eines ungezwungeneren, vertraulicheren und feinfühlenderen Umganges mit ihrer Patronin. Auf diese Weise erhielt ihre Spiritualität nachträglich ein festgefügtes Fundament für die schon vorhandene Vertrautheit mit Maria: es entstand eine mütterliche Beziehung, die so überfließend reich war, daß sie in der kindlichen Haltung der Söhne ihren Widerhall fand.

Wenn wir uns an die überlieferte Dokumentation halten, müssen wir feststellen, daß die Grundlage für dieses neue Verhältnis in der Haltung Mariens als Vorbild der Vollkommenheit zu suchen ist. Maria wendet sich in ihrem kraftvollen Beispiel den Karmeliten zu, damit sie es annehmen, nachahmen und sich zu eigen machen. Und die Unsrigen haben verstanden, daß durch diesen Prozeß neues Leben entsteht und weitergegeben wird. Eine analoge Situation liegt dort vor, wo eine Frau den fruchtbaren Samen in ihren Schoß aufnimmt und so physiologisch Mutter wird. Ebenso wird Maria auf geistige Weise Mutter, indem sie den Karmeliten ihr eigenes Beispiel als Richtschnur des Lebens anbietet.

Auch hier gelang es den Unsrigen durch einen genialen Rückblick auf die Vergangenheit, den typisch marianischen Einfluß bis zu den Anfängen des Ordens, bis zur Gründung selbst nach rückwärts auszudehnen, weshalb sie mit Entschiedenheit die selige Jungfrau feierlich als ihre wahre Mutter bekanntmachten: als Mutter nicht nur der einzelnen Mitglieder, sondern der gesamten Gruppe, indem sie sie einfach als "Mutter des Karmel" verehrten.

Was jedoch in diesem Fall am meisten überrascht, ist die Tatsache, daß diese Meinung - nachdem sie die Schwelle des Klosters überschritten und in die Öffentlichkeit gedrungen war - offiziell sogar vom Lehramt der Kirche geteilt und angenommen wurde. Das beweist zu allererst Sixtus IV. in seiner Bulle "Dum attenta meditatione" vom 28. November 1476.

Wenn die Unsrigen Maria als "Mutter" und zwar als Mutter von Anfang an grüßten, dann galt dieser Gruß logischerweise der - ersten und wichtigsten - "Stifterin", der "Gesetzgeberin", der "Gründerin" des Karmelitenordens.

Auf analoge Weise wurde auch der Prophet Elija kraft seines vortrefflichen Beispiels eines von Eifer verzehrten Kontemplativen als Vater und Gründer des Ordens begrüßt.


Maria als "Schwester", "Mitschwester"

Noch immer nicht zufrieden mit der neuen Beziehung - Mutterschaft-Kindschaft - und angetrieben von Sehnsucht nach größerer Innigkeit... ließen sich einige von den Unsrigen nicht abhalten und stießen noch weiter vor. Sie entdeckten in Maria nicht nur die Mutter, sondern eine echte Schwester, eine wahre Mitschwester. Diese zwei neuen Titel wurden nicht von allen ohne Widerspruch angenommen. Dennoch begegneten sie weithin großer Sympathie, vor allem in den französisch-belgischen Niederlassungen unseres Ordens. Auch diesbezüglich ist die entscheidende Begründung dieselbe wie vorher, d. h. das Vorbild Mariens - allerdings muß ein kleiner Unterschied beachtet werden.

In der mütterlichen Beziehung wirkt das Beispiel Mariens auf aktive Weise, als einwirkende Ursache: ein ursächliches Tun, das einen Lebenskeim vermittelt, der durch Nachahmung assimiliert wird.

In der Beziehung Schwester-Bruder hingegen wirkt das Beispiel Mariens auf passive Weise, und zwar in der daraus entspringenden Wirkung, d. h. in der geistlichen Verwandtschaft als Folge einer eifrigen Nachahmung. Es darf allerdings nicht verschwiegen werden, daß nicht einmal diese letztgenannte Beziehung Schwester-Bruder imstande war, die "tiefen Höhlen" der Karmeliten auszufüllen, die von ihrer Berufung her die Sehnsucht nach der innigsten Vertrautheit mit Maria in sich tragen.

Einige karmelitanische Schriftsteller - sie sind in Wirklichkeit nicht zahlreich - waren mit der erfundenen Affinität nicht zufrieden und beanspruchten eine volle geistige Gleichheit mit Maria. Sie zögerten darum nicht, sie ganz einfach "Karmelitin" zu nennen: eine aus ihren Reihen, eine wie sie, eine "Mitschwester", ein Mitglied der eigenen Familie.


Haifa. Konvent Stella Maris. Frater Luigi Poggi: "Verherrlichung Mariens im Himmel inmitten der Heiligen des Karmelitenordens".


Zusammenfassung

In den ersten drei Jahrhunderten ihrer Geschichte haben die Karmeliten nie aufgehört, in einsichtsvoller Liebe auf die eigenen Beziehungen zur großen Mutter Gottes zurückzuschauen, um neuere und tiefere Blickrichtungen zu gewinnen. Auf diese Weise kristallisierte sich ihre marianische Spiritualität mehr und mehr heraus und zeitigte objektive Sichtweisen und psychologische Verhaltensweisen, die immer mehr durchtränkt waren von Innerlichkeit und Vertrautheit.

Diese homogene Entwicklung war ohne Zweifel nicht nur vom marianischen Dogma sondern auch vom karmelitanischen Charisma verursacht und geprägt. Alles geschah in einer Atmosphäre heiteren Friedens, ohne äußeren Lärm und ohne zermürbende innere Streitigkeiten. Die Entfaltung der marianischen Frömmigkeit entwickelte sich stufenweise, und zwar im direkten Verhältnis zum fortschreitenden Einfluß des karmelitanischen Charismas, entsprechend den folgenden chronologischen Etappen.

Während des 13. Jh. entfaltete das Charisma noch nicht seine volle dynamische Wirksamkeit, weshalb vor allem äußere Faktoren die Entwicklung beeinflußten: die Umgebung, soziale und kulturelle Gegebenheiten, der Rahmen des feudalistischen Systems. Maria war darum die Herrin, an die der Karmel in der im engeren Sinn verstandenen Haltung der Zugehörigkeit und Abhängigkeit verwiesen war. In den beiden folgenden Jahrhunderten hingegen beobachten wir, daß vom Inneren her der Einfluß des dynamischen karmelitanischen Charismas vorherrschte. Dieser Einfluß zielte - wie wir schon sahen - darauf hin, eine höchstmögliche Stufe von Innerlichkeit, Herzlichkeit und Vertrautheit zu erreichen. So sehen wir also in der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts, daß Maria vorzugsweise nicht als Schutzherrin, sondern als Mutter verehrt wurde. Dementsprechend war der Karmelit ihr gegenüber viel mehr Sohn als Diener und Vasall. In der zweiten Hälfte des gleichen Jahrhunderts finden wir Maria als Schwester, während gleicherweise die Karmeliten sich nicht mehr so sehr als "Mönche", sondern als "Brüder" im Sinne von "Mitbrüdern" fühlten. Im 15. Jahrhundert endlich stellen wir nochmals eine neue Bezeichnung mit ganz bestimmten Nuancen fest: von nun an gehörte Maria zur karmelitanischen Familie, und diese nannte sie ganz einfach "Karmelitin".

In all diesen Phasen spiegeln sich entsprechende Geisteshaltungen wider, die weit davon entfernt sind, einander zu widersprechen oder auszuschalten; sie fügen sich vielmehr ineinander und ergänzen einander in einem übereinstimmenden Gleichklang. Wie dem auch sei, im Alltag betont der Karmelit mit Entschiedenheit und mit Vorzug den Ausdruck "Maria-Mutter" und freut sich darüber, sich ihr gegenüber in Wahrheit als Sohn benehmen zu dürfen.

Schon Paleonidorus entdeckte im 15. Jh. "eher eine Mutter als eine Schutzherrin". In neuester Zeit erklärte Thérèse vom Kinde Jesu: "Maria ist mehr Mutter als Königin". Jeder Karmelit ist überglücklich, wenn er sich für einen Sohn Mariens halten darf: Sohn, aber nicht Knecht, und noch weniger Sklave. Dies ist in Kürze der charakteristische Grundton, der die marianische Frömmigkeit im Karmel von anderen unterscheidet; dies ist das tägliche Verhalten und die bevorzugte Ausrichtung des Karmeliten gegenüber Maria. Titel und Verhalten sind Frucht einer liebevollen, jahrhundertelangen Überlieferung, die bis in die Anfänge des Ordens zurückreicht.