Edith Stein
Jahrbuch

Jahreszeitschrift für Philosophie,
Theologie, Pädagogik,
andere Wissenschaften, Literatur, Kunst

Band 1, 1995

Die menschliche Gewalt

 

 

Gewalt und martyriales Zeugnis

Camilo Maccise

Die Welt, in der wir leben, wird immer mehr zu einem Schauplatz vielfältiger Gewalt. Auch wenn wir angesichts der Bilder von Völkermord, den es an vielen Orten der Welt heute gibt, erschauern, so sind wir doch dabei, uns daran zu gewöhnen. Wir halten so etwas, wenn nicht gerade für nötig, so doch zumindest für unvermeidlich aufgrund der Komplexität der menschlichen Beziehungen.

Andererseits sind es die Medien, besonders das Fernsehen und der Hörfunk, die uns mit unzähligen Fällen von Gewalt bekannt machen: Kämpfe, Folter, Mord, Kriege. Doch auch sie lassen uns zunehmend kalt, denn meistens erscheinen sie auch wie eine Reaktion der »Guten« gegen die »Bösen«, so dass ihre gewaltsame Natur gerechtfertigt zu sein scheint. Wir finden uns damit ab, dass dadurch der gerechten Sache zum Sieg verholfen wird und es eben keine andere Möglichkeit gibt, das zu erreichen.

Neben der militärischen Gewalt mit ihrer Förderung des Waffenhandels gibt es die wirtschaftliche Gewalt, die das Individuum und ganze Gesellschaften ausbeutet, und die politische Gewalt, die in der Unterdrückung ganzer Völker besteht und auch vor Folter und Völkermord nicht zurückschreckt; gerechtfertigt wird das alles mit dem Hinweis auf die Staatssicherheit und die Verteidigung des Status quo oder mit religiösen Gründen. Diese drei weltweit verbreiteten Dimensionen von Gewalt gehen ineinander über und unterstützen sich gegenseitig: Die politische Macht garantiert die wirtschaftliche Vorrangstellung, während die militärische Macht wiederum die politische erhält.

Wir leben in einer Zivilisation der Gewalt, die ihre Wurzeln in eine Kultur der Gewalt eingesenkt hat, denn Gewalt ist letztlich jede Handlung, die sich gegen die körperliche Unversehrtheit (physische Gewalt) oder die Identität von Individuen und Gruppen (psychische Gewalt) richtet. Beide Formen von Gewalt gibt es unmittelbar und punktuell, aber auch institutionalisiert in verschiedenen gesellschaftlichen, politischen und wirtschaftlichen Systemen, die die Würde des Menschen bis zu seinen fundamentalsten Rechten mit Füßen treten und ihn der unverzichtbaren Mittel für sein Überleben berauben. Diese Art von gewaltsamer Unterdrückung provoziert als Antwort oft eine gewaltsame Erhebung, und eine solche Gegengewalt unterbricht nicht nur nicht die Spirale der Gewalt, sondern verstärkt sie nur noch.

Angesichts dieser Logik von Kampf und Tod bietet uns das Evangelium eine andere Perspektive, und zwar nicht nur als Lehre, sondern als Zeugnis, um den Teufelskreis der Gewalt zu durchbrechen. Es ist das Beispiel Jesu, der sein Leben hingibt, um für den Plan Gottes mit den Menschen Zeugnis abzulegen und um uns einen neuen Weg zu zeigen. Mehr noch: Er opfert sein Leben für die, die es ihm gewaltsam entreißen.

Mit Jesus und dem Christentum ist eine neue Logik gegenüber der Gewalt entstanden, nämlich sie passiv oder aktiv zu erleiden aus christlichem Engagement im Kampf für die Gerechtigkeit oder die Menschenrechte und sie zur Quelle des Friedens und der Versöhnung zu machen. Diese Haltung nennt man martyriales Zeugnis.

In neuerer Zeit spricht man in der theologischen Diskussion vom gewaltlosen Kampf als einer öffentlichen und gesellschaftlichen Antwort auf gewaltsame Unterdrückung. Zu gewaltfreiem Handeln gehört der Protest, die Verweigerung der Mitarbeit und andere Verhaltensformen und Initiativen, die die Macht des Unterdrückers bloßlegen. Dieser reagiert natürlich oft mit erneuter gewaltsamer Unterdrückung, einschließlich tödlicher Folgen. Gewaltloser Kampf muss auch das Erleiden des Martyriums mit einbeziehen.

 

1. Religiöse Gewalt und martyriales Zeugnis

Normalerweise ist das Zeugnis der Martyrer mit religiös begründeter Gewalt verbunden, die aus dem Glauben an Jesus und der Annahme seiner Botschaft mit ihren praktischen Folgen entsteht. So wird das Martyrium definiert als Annahme oder Erleiden einer an sich todbringenden Folterung, die man mit Entschlossenheit und Geduld erträgt und die aus Hass gegenüber dem Glauben oder christlichen Verhaltensformen verhängt wird. In dieser Sicht wird die freie, wenn auch schmerzhafte, aber nicht bewusst gesuchte Annahme des Todes wegen des Glaubens oder aufgrund von Werten der christlichen Moral hervorgehoben. Nicht berücksichtigt ist bei dieser Vorstellung von Martyrium der Tod als Folge des aktiven Kampfes und Einsatzes für die Gerechtigkeit. Den Glauben auf eine solche Weise zu bezeugen, das sprengt die herkömmlichen Vorstellungen und führt leicht zu Unverständnis, ja zu Ablehnung.

Dass diese Behauptung, die wir hier aufstellen, wahr ist, wird an einigen innerkirchlichen Reaktionen deutlich, die die Problematik dieser neuen Situation widerspiegeln.

Als in Rom die Ermordung von Erzbischof Oscar Romero während eines Gottesdienstes am 24. März 1980 bekannt wurde, sagte ein in Rom lebender Kardinal dazu wörtlich: »Ich bedauere, dass dieses Sakrileg begangen wurde; andererseits hat er das auch gesucht, da er sich in die Politik eingemischt hat.«

Pedro Casaldáliga, Bischof der Prälatur Sâo Félix a Araguaia in Brasilien, erzählt, dass ihm anlässlich seines Ad-limina-Besuches 1988 bei seinem Gespräch in der Glaubenskongregation unter anderem gesagt wurde: »Ihr nennt Oscar Romero, Camilo Torres u.a. ohne weiteres Martyrer. Es ist sicher gut, bestimmte Persönlichkeiten, die sich dem Volk gewidmet haben, nicht zu vergessen, aber sie Martyrer zu nennen?« Und die Antwort von Pedro Casaldáliga: »Wir können unterscheiden zwischen >kanonischen<, d. h. durch die Kirche offiziell anerkannten Martyrern und jenen vielen anderen Martyrern, die wir Martyrer des Himmelreiches nennen, da sie ihr Leben für die Gerechtigkeit und die Befreiung hingaben, von denen viele Christen sind, denn auch sie starben ausdrücklich um des Evangeliums willen. Und ich, ich habe ein Gedicht auf den >heiligen Romero von Amerika< geschrieben, denn ich betrachte ihn als Heiligen, als unseren Martyrer.«

In diesem Zusammenhang ist bemerkenswert, dass das Dokument von Puebla von 1979 den Terminus »Martyrer« vermeidet, wenn es, was mehr als einmal geschieht, von der Verfolgung spricht und »vom Tod, den manche Glieder der Kirche bei der Bezeugung ihres prophetischen Auftrages« wegen ihres Einsatzes für Gerechtigkeit und der Verteidigung der Menschenrechte erleiden müssen.

 

2. Gesellschaftliche Gewalt und martyriales Zeugnis

Der Tod vieler Christen – Laien, Ordensleute, Priester und Bischöfe – durch die staatliche Obrigkeit oder durch politische Gruppierungen in den letzten Jahrzehnten hat sich meist im Zusammenhang mit dem Kampf für soziale Gerechtigkeit oder Befreiung und die Menschenrechte ereignet. Und auch das ist Tatsache, dass in vielen Fällen diejenigen, die Martyrer schaffen, Menschen sind, die den gleichen christlichen Glauben wie die Mörder haben und behaupten, das zur Rettung der »abendländischen christlichen Zivilisation« zu tun.

Diese Art von Martyrium, die eine Folge von gesellschaftlicher Gewalt ist, hat dazu geführt, dass über den Sinn und die Bedeutung des martyrialen Zeugnisses von neuem reflektiert werden muss.

Karl Rahner hat kurz vor seinem Tod dazu aufgefordert, den klassischen Begriff des Martyriums zu erweitern. In seinen Überlegungen hebt er hervor, dass zuweilen theologische Begriffe verwendet werden, mit denen unterschiedliche Realitäten beschrieben werden, die aber objektiv betrachtet ähnlich sind, wie es beim Begriff »Sünde« der Fall ist. Dieser wird für das Erbverderbnis und für den persönlich verschuldeten Sündenzustand gleichermaßen verwendet. Ausgehend von dieser theologischen Praxis schlägt er vor, den Terminus »Martyrium« sowohl für den um des Glaubens willen erduldeten, als auch für einen solchen Tod zu verwenden, der auf den um desselben Glaubens willen übernommenen aktiven Einsatz und Kampf zurückgeht. Selbst Jesus akzeptiert den ihm auferlegten Tod auch als Folge seines Lebens im Dienst von Gottes Heilsplan. Das brachte ihn dazu, sich aufgrund der Verkündigung einer religiösen Botschaft mit sozialen Implikationen und Folgen gegen die religiösen und politischen Machthaber aufzulehnen. Dazu sagt Rahner wörtlich:

 

Die Unterschiede zwischen einem Tod um des Glaubens willen im aktiven Kampf für ihn und dem Tod um des Glaubens willen in einem passiven Erdulden sind zu fließend und zu schwer zu bestimmen, als dass man sich die Mühe machen müsste, diese beiden Todesarten begrifflich im Wort genau auseinanderzuhalten. Beides ist letztlich die gleiche, ausdrückliche und entschlossene Annahme des Todes aus derselben christlichen Motivation heraus; in beiden Fällen ist der Tod die Annahme des Todes Christi, die als höchster Akt der Liebe und des Starkmutes den Menschen als Glaubenden restlos in die Verfügung Gottes gibt.

 

Diese Betrachtung des Martyriums aus der Sicht der Herausforderungen und Perspektiven, die sich in der Welt von heute angesichts von gesellschaftlicher Gewalt für das Martyrium ergeben, findet sogar in der traditionellen Theologie eine Stütze. Der Hauptvertreter der Scholastik, Thomas von Aquin, bezieht in seiner Beschreibung des Martyriums auch den Kampf zur Verteidigung der Gesellschaft vor denjenigen mit ein, die darauf aus sind, den christlichen Glauben zu zerstören, genauso aber auch die Bemühungen zugunsten der Gerechtigkeit. Nach der Meinung des Doctor Angelicus konnte als Martyrer gelten, wer »bei der Verteidigung der Gesellschaft (res publica) vor dem Angriff der Feinde starb, deren Ziel die Zerstörung des christlichen Glaubens ist«, und »es leidet für Christus nicht nur derjenige, der um des Glaubens an Christus willen leidet, sondern auch derjenige, der um jedweden Werkes der Gerechtigkeit willen aus Liebe zu Christus leidet«.

Was not tut, ist eine neue Reflexion, die sich nicht einfach auf die Wiederholung von Begriffen beschränkt, die in einem andersartigen historischen Kontext erarbeitet wurden, sondern die eine vorurteilsfreie Abklärung des zeugnishaften Sterbens von so vielen Menschen erlaubt, die heute infolge eines aktiven Kampfes für die Gerechtigkeit und andere christliche Werte sterben. Mehr noch! Nach Rahner sollten sich »eine legitime >politische Theologie< und eine Theologie der Befreiung dieser Begriffserweiterung annehmen. Sie hat eine sehr konkrete praktische Bedeutung für ein Christentum und eine Kirche, die ihrer Verantwortung für Gerechtigkeit und Frieden in der Welt sich bewusst sein wollen.

 

3. Politische Gewalt und Bezeugung eines Glaubens, einer Hoffnung und einer Liebe mit politischer Dimension

Angesichts der bestehenden politischen Gewalt musste das Christentum sein Engagement als eine sich aus dem Evangelium ergebende Forderung vor bestimmten sozialen Problemen überdenken. Das führte unter anderem zu einer Neubewertung der politischen Dimension, die die drei fundamentalen Haltungen in der Nachfolge Jesu – Glaube, Hoffnung und Liebe – haben sollen und müssen.

Es wurde klar, dass der Plan Gottes, um Geschichte zu werden, einer Reihe von Vermittlungen bedarf, die eine Analyse der Folgen von politischer Gewalt, wie Situationen der Unterdrückung, der Armut und der Ungerechtigkeit, geradezu erfordern, die es heute in einem großen Teil der Welt gibt und die den Werten und Forderungen des Evangeliums widersprechen. Die politische Dimension des Lebens manifestiert sich dann als eine für die Umwandlung der gesellschaftlichen Strukturen und deren Ausrichtung nach dem Plan Gottes notwendige Praxis. So erklären sich die Option für die Armen, die Wiederentde-ckung der befreienden Kraft des Glaubens, die wesentliche Bedeutung des Handelns aus Liebe und die theologische Dimension des Kampfes für die Gerechtigkeit. In den partiellen Befreiungen wird, wenn auch in unvollkommener Form, die volle und endgültige Befreiung präsent, was allerdings auch bedeutet, dass das christliche Zeugnis auf das Martyrium hin offen sein muss. Die Gläubigen fühlen sich heute berufen, das Thema der Gerechtigkeit und der Armut in ihre Praxis und Reflexion zu integrieren, das bedeutet: die sozialen und politischen Implikationen einer tatkräftigen Liebe angesichts von Strukturen, die die Armen zertreten und eine institutionalisierte Gewalt schaffen, die Ethik eines revolutionären Engagements, die menschlichen Befreiungen und ihre Beziehung zur umfassenden Befreiung des Reiches Gottes und die Bedeutung der aktiven Gewaltlosigkeit; denn all das hat die Verfolgung und das Martyrium unzähliger Christen zur Folge gehabt.

Die drei Grundhaltungen des christlichen Lebens mit dem Attribut »politisch« zu versehen, mag willkürlich oder doch zumindest zweischneidig erscheinen. Das kommt daher, weil der Terminus politisch sehr negative Bedeutungsinhalte bekommen hat, wie totalitäre Macht, Korruption, Betrug und politisches Ränkespiel. Ihrer ursprünglichen Bedeutung nach ist mit Politik nichts anderes gemeint als die Organisation der Gesellschaft unter Beachtung der grundlegenden Werte der ganzen Gemeinschaft. »Sie muss die Gleichheit mit der Freiheit, die öffentliche Autorität mit der legitimen Autonomie und Mitbeteiligung von Personen und Gruppen, die nationale Souveränität mit dem Zusammenleben und der internationalen Solidarität in Einklang bringen. Sie definiert auch die Mittel und die Ethik der gesellschaftlichen Beziehungen. In diesem umfassenden Sinn betrifft die Politik die Kirche (...) Es ist eine Form, den einzigen Gott zu verehren, indem die Welt ihres mythischen Charakters entkleidet wird und gleichzeitig ihm geweiht wird.«

Diese Sicht von Politik hat klarer zu Tage treten lassen, was politische Gewalt ist und wie das Sicheinlassen auf sie als Grundbestandteil des Lebens als Christ betrachtet werden muss.

Ein politisch ausgerichteter Glaube führt zur Analyse der Realität im Licht von Gottes Heilsplan mit der Menschheit, um dieses Projekt Gottes aufzuzeigen und alles anzuzeigen, was sich ihm widersetzt. Weiterhin führt dieser Glaube zur Unterscheidung von Gottes Wirken in den Zeichen der Zeit und zur Aufdeckung der sündhaften gesellschaftlichen Zustände. Schließlich befähigt er zum Engagement zur Überwindung von allem, was der Würde der Söhne und Töchter Gottes und ihrem geschwisterlichen Umgang miteinander widerspricht, wie Christus das für die Menschen gewollt hat. Die Probleme und Konflikte, die es in der Gesellschaft aus dem Glaubensengagement zu bewältigen gibt, läutern sie und führen sie zur Fülle der Heiligkeit.

Die politisch ausgerichtete Hoffnung ist zu verstehen als vom Glauben getragener aktiver Einsatz bei der Suche nach der vorzeitigen Verwirklichung des Reiches Gottes auf dem Weg über die Verteidigung der Würde des Menschen, als Kampf um die Freiheit und die Geschwisterlichkeit in der Welt. Die politisch ausgerichtete Hoffnung führt zum Bemühen, die institutionalisierte Gewalt abzuschaffen und in den Dingen und Situationen des Alltags, den Mitmenschen und in uns selbst die Samenkörner des Lebens und der Auferstehung zu entdecken. Auch die Erfahrung der eigenen Armut und Unzulänglichkeit und die sich nur langsam vollziehenden Veränderungen erfordern die Übung einer aktiven Hoffnung, die die Spannung von Geduld und Ausdauer aushält.

Die politische Dimension des christlichen Lebens drückt sich aber vor allem durch die Übung einer politisch ausgerichteten Liebe aus. Das Vorhandensein von allgemeiner Ungerechtigkeit und Unterdrückung hat notwendigerweise zur Einsicht einer Umorientierung der Menschen und einer Veränderung der Gesellschaft in Richtung auf das Reich Gottes geführt. Der Kampf für die Menschenrechte, die in vielen Gesellschaften unterdrückt werden, besonders in den Ländern der Dritten Welt, ist in dieser Sicht die vornehmste Aufgabe der Menschheit und von daher eine Forderung des Evangeliums. Der Christ ist aufgerufen, den gesamten Bereich menschlichen Lebens zu evangelisieren, einschließlich seiner politischen Dimension. Die Politik als Verteidigung der Menschenrechte, als Arbeit für Gerechtigkeit und Frieden und Überwindung der institutionalisierten Gewalt ist Ausdruck eines Zusammenlebens in Miteinander und Mitbeteiligung.

Es ist wohl wahr, dass die christliche Tradition entsprechend den jeweiligen zeitlichen Umständen immer bemüht war, eine konkrete und tatkräftige Liebe zu üben; in der heutigen Welt jedoch, wo wir uns der Unterdrückungen im großen Stil bewusst geworden sind und wo es die in Not lebenden Nächsten in großen Massen gibt, ist die gesellschaftspolitische Dimension der christlichen Liebe deutlicher hervorgetreten und damit auch die Herausforderung eines martyrialen Zeugnisses. Dieses besteht dann im Bemühen, Unterdrückungsmechanismen zu verändern und sich in die wirtschaftlichen, politischen, nationalen und internationalen Entscheidungsgremien einzumischen. Die Sozialenzykliken der letzten Päpste haben die Reflexion über diese neuen Merkmale der Nächstenliebe geleitet und angeregt. Das hat zur Überwindung einer ausschließlich privatistischen und individualistischen Sicht der Nächstenliebe beigetragen.

Die Liebe zum Nächsten besitzt eine historische Dimension, die sich in einem Handeln konkretisieren muss, wie es die sich verändernden Umstände erfordern. Heute sind neue Formen der Vermittlung vonnöten, die der christlichen Liebe eine solche Wirksamkeit verleihen, dass sie angesichts der Situationen von ständiger Gewalt und Unterdrückung bestehen kann. Selbst die bei Matthäus aufgezählten Werke der Barmherzigkeit müssen aus einer sozialen Sicht heraus interpretiert werden. Dem Bedürftigen zu essen und zu trinken zu geben bedeutet mitzuhelfen, dass in der Gesellschaft Arbeitsplätze und Strukturen geschaffen werden, die es mit Hilfe einer angemessenen Entlohnung allen erlauben, die menschlichen Grundbedürfnisse zu befriedigen. Kranke zu besuchen verpflichtet, darauf hinzuarbeiten, dass niemand ohne Kranken- und Sozialversicherung leben muss. Sich um Gefangene zu kümmern muss zur Anzeige der Verletzungen der Menschenrechte, der Folter, der den Eingekerkerten angetanen Gewalt und der aus politischen Gründen willkürlich verhängten Verhaftungen führen.

Letzten Endes kann man angesichts der heutigen Situation den Mitmenschen und somit Gott nicht wirklich lieben, ohne sich der Förderung der Gerechtigkeit und dem Dienst an ihr zu verschreiben, und zwar auch im Bereich der Strukturen, um dadurch strukturelle Gewalt zu überwinden, auch wenn dieser Einsatz zu Verfolgung und Martyrium führt.

 

4. Gewalt und Martyrium bei Jesus

Jesus ist der Martyrer schlechthin. Er erlitt Verfolgung und Tod wegen seiner Treue zur Ankündigung des Reiches mit seinen Erfordernissen und wegen seiner Handlungsweise gegenüber den religiösen und weltlichen Machthabern seiner Zeit. Leben als Christ ist nichts anderes als Nachfolge Jesu in der Geschichte unter Berücksichtigung seiner Geschichtlichkeit. Diese radikale Nachfolge Christi kann unter Umständen zur Einbeziehung in das Geschick Jesu führen, auch in der Form von Verfolgung und gewaltsamem Tod, den er als sein Martyrium erlitt.

Die christologischen Entwürfe unserer Zeit haben Jesus wieder in sein historisches Umfeld gestellt und betrachten in diesem Licht die Nachfolge Jesu mit ihren Konsequenzen und Notwendigkeiten. Ein Schlüssel zur Interpretation der martyrialen Zeugnisse von heute, der Opfer von Unterdrückung und Gewalt, ist gerade die Betrachtung des Martyriums Jesu als historisches Geschehen und von da aus die Frage, was es heute bedeutet und impliziert, sein Jünger zu sein; es geht also darum, gleichsam die Erfahrung nachzuerleben, die Christus mit Gott, den Mitmenschen und der Welt gemacht hat, um davon ausgehend sein Werk fortzuführen in der Bereitschaft, das durchzumachen, was er durchmachte.

Wenn man von den Gegebenheiten der Gewalt und Unterdrückung ausgeht, die es heute in so umfassendem Ausmaß gibt, dann hebt die Annäherung an den historischen Jesus die befreienden Aspekte seiner Lehre und seines Lebens hervor. Er erscheint dann als der Befreier von aller Unterdrückung und Gewalt, wenn er das Reich als Frohe Botschaft von der Rettung ankündigt, Befreiung verheißt und deren endgültige Verwirklichung in kleinen befreienden Schritten vorwegnimmt, wie die Befreiung von der Sklaverei des Gesetzes (vgl. Mk 2,27), die Befreiung des Gottesbildes vom Gesetz (vgl. Lk 6,35), die Befreiung von jenen menschlichen Strukturen, die den Kern der Offenbarung – die Liebe zu Gott und zum Nächsten (vgl. Lk 15,2; 10,25-37; Mt 6,1-18) – vernichten.

Jesus lebte nicht am Rand der gesellschaftspolitischen Probleme seiner Zeit, doch war er auch kein Guerillero, der sich gewaltsam gegen das etablierte System erhoben hätte und mit ihm kollidiert wäre. Im Licht des Evangeliums erscheint Jesus als einer, der in der Zeit und an dem Ort, an dem er zu leben hatte, eingewurzelt war. Die politischen und sozialen Spannungen im Palästina von damals sind der gesellschaftliche Rahmen, in dem sich sein Leben, seine Predigt und sein Wirken abspielten. Jesu Botschaft ist nicht einfach gesellschaftspolitischer Art; er verkündigt das Reich Gottes von einer religiös-pastoralen Warte aus, die jedoch große soziale Auswirkungen hat, da durch sie die zerstörerischen und diskriminierenden Machtstrukturen zerschlagen werden, und mit ihnen die Werte, die im Widerspruch zu den Werten des göttlichen Planes stehen.

Der als Martyrium erlittene Tod Jesu erscheint in diesem Zusammenhang als eine Folge seiner Botschaft und seines Verhaltens, das die gewaltsame Beseitigung durch diejenigen hervorruft, die in Staat und Religion die Macht innehaben. Er wird diffamiert, verfolgt und mit dem Tod bedroht, er hingegen begegnet diesen Herausforderungen mit einem aktiven Engagement. Er versucht, dem Vater, der ihn mit der Verkündigung des Reiches beauftragt hat, treu zu sein, ohne deswegen direkt den Tod zu suchen; dieser taucht vielmehr am Horizont seines Lebens in Verbindung mit der gewaltsamen Zurückweisung von seiten derer auf, die sich weigern, Gottes Forderungen anzunehmen, nachdem sie damit konfrontiert wurden; das heißt, sie weigern sich letztlich, das anzunehmen, was er verkündigt hat. So verleiht sein Martyrium, das in die Auferstehung mündet, jeglichem Leben, das aus Treue zum Vater und seinem Plan mit der Menschheit verloren wird, Sinn und Inhalt.

 

5. Martyrium und Nachfolge Jesu

Jesu Martyrium in dieser tiefen Verbindung mit seinem Leben und seiner Predigt zu sehen hilft, privatistische und spiritualisierende Visionen der Nachfolge zu überwinden. Nachfolge Jesu verwandelt sich dann vor allem in das Nachvollziehen der Erfahrung, die er gemacht hat, nämlich Gott als Vater zu erleben, mit seinen Schwestern und Brüdern in Beziehung zu leben und die Welt als Ort der Begegnung mit ihnen und mit Gott zu sehen.

Von einem solchen Fundament aus nimmt das Engagement des Christen notwendigerweise soziale Züge und eine soziale Praxis an, die ihren Ursprung im Glauben hat und dazu drängt, nach der Art Jesu, von der Solidarität mit den Ärmsten ausgehend, für die ganzheitliche Befreiung aller zu arbeiten. Das allerdings ist notwendigerweise Anlass zu Konflikten, Unverständnis, Verfolgungen, ja gewaltsamem Sterben wie im Falle Jesu. Das bedeutet Nachfolge des Herrn bis zur letzten Konsequenz in seinem aus dem Glauben an die Werte des Reiches Gottes kommenden Engagement. Jesusnachfolge betrifft tatsächlich das ganze Leben des Menschen und erfordert Veränderung und Umkehr in allen Bereichen. Im religiösen Bereich bewirkt sie den Schritt von der Furcht vor Gott zur Liebe und zum Vertrauen auf ihn, von der Haltung der Sklaven zu der von Töchtern und Söhnen. Im wirtschaftlichen Bereich bewirkt sie den Schritt von der Raffgier zum Teilen, von der Abdrängung zur Gemeinschaft, vom Monopoldenken zum Teilen. Im gesellschaftlichen Bereich befähigt sie zur Überwindung der Angst vor den Mächtigen und zur Anzeige von Gewalt und Machtmissbrauch, zur Besiegung des Hasses durch die Liebe, zur Achtung vor den Schwachen anstelle ihrer Versorgung von oben herab. Im politischen Bereich schließlich zwingt sie zur Ausübung der Macht als eines Dienstes, um so Unterdrückung, Gewalt und Totalitarismus in Gleichheit und Geschwisterlichkeit zu vermeiden.

So erklärt es sich, dass Nachfolge Jesu mit all diesen Konsequenzen gerade in kulturell katholischen Ländern zum Martyrium führt und dass es innerhalb der Kirche nicht leicht fällt, dieses als solches anzuerkennen. Die Martyrer von heute sind wie ein Aufschrei, der das Gewaltpotential in einer Situation der sozialen Sünde in Ländern christlichen Glaubens und christlicher Tradition anprangert. Andererseits sind diese Martyrer der klarste und radikalste Ausdruck der Teilnahme am Leiden Jesu, ohne das es keine Nachfolge in Treue geben kann; zugleich sind sie ein unübersehbares Zeugnis, dass die Kirche die befreiende Sendung Jesu zwischen Licht und Dunkel fortsetzt.

 

Schluss

Das in diesem weiten Sinn verstandene martyriale Zeugnis ist in einer Welt der Gewalt ein wirkungsvolles und gewaltzerstörendes Mittel. Das Sicheinlassen auf eine gewaltlose Revolution in dem von uns dargelegten Sinn führt zum Gedanken, dass die Gewalt nötig ist, um der Gerechtigkeit zum Triumph zu verhelfen. Es ist eine Proklamation der befreienden Kraft der Wahrheit, der Freiheit und der Geschwisterlichkeit, die obsiegen, ohne zu töten; mehr noch, die obsiegen, indem sie Verfolgung und Tod annehmen.

Die Martyrer von heute machen deutlich, welche sozialen Erfordernisse und Folgen das Reich Gottes hat, und dass die Werte des Evangeliums so sehr verunsichern können, dass sie eine Opposition gebären können, sogar unter Christen, wenn sich diese auf ein Christentum festgelegt haben, das der Realität enthoben ist und ohne Einwirkungen auf die Entwicklung und das Leben der Gesellschaft bleibt; dabei verfolgen und klagen sie jene als subversive Unruhestifter an, die die Botschaft des Evangeliums verkünden.

Martyrer ist jeder, der um Gottes oder Christi willen oder wegen seines sich auf den Glauben an Gott oder Christus gründenden Verhaltens einen gewaltsamen Tod erlitten hat, oder letztlich wegen dessen, was den wahren Inhalt des Wortes Gottes oder Christi ausmacht: der Wahrheit und Gerechtigkeit.

Inmitten dieser Anstrengungen, der Reflexion und der Suche, in einer Welt der Gewalt, die von einer ungerechten und unterdrückerischen Ordnung regiert wird, »muss man die gefährliche Erinnerung an die Martyrer von heute wachrufen, die die christliche Fruchtbarkeit unverzichtbar machen, auf die allein sich Jesus, der Herr, bezogen hat: >Wenn das Weizenkorn nicht in die Erde fällt und stirbt, bleibt es allein; wenn es aber stirbt, bringt es reiche Frucht. Wer an seinem Leben hängt, verliert es, wer aber sein Leben in dieser Welt gering achtet, wird es bewahren bis ins ewige Leben<«(Joh 12,24 f).

 

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