Edith Stein
Jahrbuch

Jahreszeitschrift für Philosophie,
Theologie, Pädagogik,
andere Wissenschaften, Literatur, Kunst

Band 3, 1997

Das Judentum

 

Der Jude spricht

Jehudi Menuhin

Meine Mutter gab mir den Namen Yehudi – der Jude. Sie tat es aus Trotz und Stolz, doch auch in weiser Voraussicht. Sie wollte damit erreichen, dass ich frei von jeglichen hemmenden oder einschüchternden Einflüssen des jüdischen Ghettos – gleich, ob es russisch oder amerikanisch war ­ aufwuchs. So folgte ich dem Beispiel meines Vaters, der das Erbe eines chassidischen, streng orthodoxen Rabbis antreten sollte, aber statt dessen seiner religiösen Ausbildung im Alter von nur zwölf Jahren den Rücken kehrte und sich auf den Weg in die Neue Welt machte. Der amerikanische Generalkonsul in Marseille schickte ihn allerdings schnurstracks nach Tel Aviv zurück. (Glücklicherweise war es ihm zuvor gelungen, einen ganzen Tag in Paris zu verbringen!) In Tel Aviv beendete er zusammen mit den künftigen Führern Israels sein Studium am Herzlin Gymnasium. Der Sprung in die Vereinigten Staaten gelang dann später dem etwa Zwanzigjährigen, und dort sorgte der glückliche Zufall dafür, dass er meine Mutter wiedertraf, die er zuvor in Jaffa kennengelernt hatte.

Aus der damaligen Perspektive gesehen, waren meine Eltern auf ihre ganz eigene Weise Rebellen. (Anfang dieses Jahres begingen wir übrigens den 100. Geburtstag meiner Mutter, die selbst in diesem biblischen Alter immer noch unsentimental, diszipliniert, geistreich und humorvoll argumentierte und schnell und scharf parierte.) Mit fast »missionarischem Eifer« – freidenkerisch, universal, hochmoralisch, gläubig, aber keineswegs bigott, in mehreren Fremdsprachen zu Hause (Hebräisch, Russisch, Englisch, Französisch, Deutsch, Italienisch und Spanisch) und völlig auf das Familienkonzept fixiert – waren meine Eltern entschlossen, ihre drei Kinder (meine Schwestern Hephzibah und Yaltah und mich) in einer nicht-jüdischen Atmosphäre zu erziehen. Das bedeutet jedoch nicht, dass unserem jüdischen Freundeskreis mit seinen unzähligen »Onkeln« und »Tanten« sowie den religiösen jüdischen Feiertagen nicht der angemessene Respekt erwiesen wurde.

Gestärkt wurde dieses Gefühl völliger Emanzipation von den Forderungen der Orthodoxie und des Zionismus selbstverständlich durch unsere Reisen, weltweiten Konzerttourneen und die Zeit, die wir in Paris, Ville d'Avray, Basel, Rom, London und natürlich San Francisco und New York verbrachten.

Mein eigenes Empfinden als Jude ist daher im Lauf meines Lebens erst später gewachsen und hat sich weiter vertieft. Da gibt es auf der einen Seite eine speziell jüdische Philosophie, wie die Spinozas und Constantin Brunners, die dem Verstehen realistischer Abstraktion und universaler Wahrheit entspringt ­ also vom Monotheismus, von Moses über die höchste Moral eines Jesus zu Einstein und dessen einheitlicher Feldtheorie, von der Gleichungsformel zwischen Licht und Substanz, Geist und Materie. Auf der anderen Seite aber gibt es den unbeschreiblich grausamen Holocaust und die immerwährende Frage »weshalb diese speziell jüdische Rolle, dieses ewige Dilemma des Juden, der gleichermaßen verehrt und verfolgt, zugleich Prophet und Schuft, sich in der mathematischen Abstraktion, im Gesetz, im Kaufmännischen, der Medizin und Philosophie selbst übertrifft und dennoch zur Kreuzigung, zum Tod auf dem Scheiterhaufen, in Gaskammern und zu Qualen bei lebendigem Leibe verdammt ist?« Hat die Rolle von diesem obersten Sündenbock und Lamm Gottes Bedeutung für die menschliche Existenz?

Es sind diese einschneidenden, grauenvollen Geschehnisse und diese bohrenden und immer wiederkehrenden Fragen, durch die ich mir meines jüdischen Erbes mehr und mehr bewusst geworden bin.

Es ist schier unmöglich, Erinnerungen wie die an Belsen, wo ich für die Überlebenden gespielt habe, in sich zu tragen oder Gerhard Schoenberners Buch Der Gelbe Stern zu lesen, ohne bei der Frage stehenzubleiben, wie und warum es einem kultivierten Volk wie den Deutschen überhaupt möglich war – diesem Volk, das uns Bach, Beethoven und Goethe schenkte –, derartig grausame und unmenschliche Verbrechen zu begehen, wie es sie zuvor noch nie gegeben hatte, und das in so riesigem Umfang, genauestens geplant und organisiert und noch dazu an den eigenen getreuen und ehrenhaften Bürgern.

Der einzige Schluss, den ich aus all dem zu ziehen vermag, ist der, dass der Drang nach Vernichtung heute noch genauso stark im Herzen des Menschen gärt wie einst bei den kultivierten Völkern der Römer, Griechen und – nicht zu vergessen – der biblischen Juden. Selbst die Entwicklungen in der Technik, die neu gewonnenen Erkenntnisse in Kunst und Wissenschaft, selbst die Liebe der Frauen und Mütter oder die Gesichter unschuldiger Kinder können uns nicht vor dieser Sucht bewahren, unsere Enttäuschung und Wut, unsere Machtlosigkeit und unseren Rausch nach Überlegenheit, der unserem Minderwertigkeitskomplex entstammt, an den Schwächeren und Unschuldigeren, den Hilfloseren und Weiseren auszulassen. In jedem von uns schlummern dieses entsetzliche Erbe und dieser Fluch. Sie sind längst so tief in unserem Denken und Handeln verwurzelt, dass es unmöglich scheint, sich je davon zu befreien.

Aber, müssen wir uns fragen, was ist es, das unzählige »gute« Menschen aus den unterschiedlichsten Gesellschaftsschichten unablässig ihren aufrichtigen, ehrlichen, treuen und verlässlichen Weg verfolgen lässt? Obgleich ihr Wunsch nach Unabhängigkeit ausgeprägt ist, sind sie denen gegenüber, auf die sie angewiesen sind, gleichbleibend zuverlässig. Aber das stärkste Empfinden der Bereicherung und tiefster Freude entstammt immer einem intensiven Abhängigkeitsverhältnis. Es geht hier um eine Abhängigkeit von allem und jedem, und das gilt nicht nur für das Hier und Jetzt, sondern nimmt ebenso Bezug auf das längst Vergangene, wie seltsam es auch immer erscheinen mag. Selbst von unserem Nächsten, den wir ermorden, sind wir abhängig – wie Kain von Abel. Das Wissen, das wir uns angeeignet haben, und die damit errungene Technik bringen uns in die bedrohliche Lage des Zauberlehrlings. Werden wir lernen, dass es heute mehr als je zuvor eines globalen Denkens bedarf, um zu überleben? Wir haben eine Pflicht der Zukunft gegenüber, den Generationen gegenüber, die nach uns kommen. Zuviel geschieht heute, was die Chancen für eine lebensfähige Zukunft verspielt. Das geschieht nicht immer wissentlich; es geschieht oft nur aus Stupidität und Ignoranz. Dabei sind wir vor allem auf jeden einzelnen von uns angewiesen, wir sind von unserer Kindheit und unserer Ausbildung abhängig, von unserem schöpferischen Denken und Schaffen, sei es in Musik, Kunst oder Handwerk. Wir sind das Produkt unserer Erziehung, unserer Umwelt und unserer Erfahrungen.

Jedes Mal, wenn wir einem anderen statt uns selbst die Schuld geben und jedes Mal, wenn wir Überlegenheit oder Privilegien zu unserem eigenen Vorteil ausnutzen und damit einem anderen Leid zufügen, tun wir den ersten Schritt auf dem Weg zu Mord, Krieg und Vernichtung. Wir müssen erkennen lernen, wo das alles hinführt; wir müssen lernen, nicht nur für den Augenblick, sondern für ein Übermorgen zu leben.

Diese Gedankengänge bewogen mich zur Gründung meiner Stiftung in Brüssel. Unter einem Dach vereinigt sie mehrere Aktionen, die ich nach und nach ins Leben gerufen habe und die sich innerhalb und außerhalb Europas einerseits mit der musikalischen Erziehung junger Menschen befassen und andererseits darum bemüht sind, dort Abhilfe zu schaffen, wo Not herrscht. Es ist mein tiefes Bedürfnis, den Ungehörten eine Stimme zu geben und dort Harmonie zu fördern, wo sich die Dinge dieser Welt der universellen Ordnung zu entziehen drohen.

Dies ist das Universum; wir alle sind unsterbliche Teile desselben, sind Fragmente der Götter, die alle dem Einen angehören, der uns miteinander vereint. Keiner von uns kann diesem Weltall entfliehen; keiner von uns kann sich abseits stellen; denn dieser Kosmos ist ein Gefüge aus komplizierten Harmonien und Rhythmen, deren menschliche Melodien ihre ureigenen Vibrationen widerspiegeln, aus denen wiederum Konsonanzen und Dissonanzen, die in jedem von uns gegenwärtig sind, entstehen. Die Hilfe hierzu muss erbeten werden. Meine persönliche Bitte möchte ich an dieser Stelle mit meinem Leser teilen.

 

Mein Gebet

Ich bete zu Euch, die ich nicht kenne und nicht kennen kann,
die Ihr in mir und um mich seid,
denen ich in Liebe, Ehrfurcht und Glauben angehöre.
Zu dem Einen bete ich und zu den Vielen:

Leitet mich zu meinem besseren Ich,
helft mir, das Vertrauen alles Lebendigen zu gewinnen ­
der Menschen, Tiere und Pflanzen ­
und auch das der Leben spendenden Luft, des Wassers,
der Erde und des Lichts,
die sie nähren.

Bewahrt in mir die Ehrfurcht vor dem Unerklärlichen
und dem Wesen in all seiner Vielfalt,
im Einmaligen wie auch in der Mannigfaltigkeit,
denn alles muss leben, um zu überleben.

Helft mir, dass ich nie aufhöre,
staunend vor dem Wunder zu stehen,
dass ich nie die Begeisterung,
Neues zu entdecken, verliere.

Helft mir,
überall den Sinn für das Schöne zu erwecken
und mit anderen für andere und für mich
zu dieser Schönheit beizutragen,
die uns umgibt und die wir hören, sehen,
atmen, kosten und spüren,
derer wir uns durch Sinn und Geist bewusst sind.

Helft mir,
zu allen Zeiten
alles Atmende, Dürstende,
Hungernde und Leidende
zu behüten.

Helft mir,
in Ehrlichkeit und Bescheidenheit
die verschiedenen Rollen,
die mir möglicherweise abverlangt werden,
zu übernehmen,
sei es als Lehrer, Führender, Lernender,
Seelenhirt, Heilender
oder als Freund, Diener oder Meister.

Verhelft mir zu der Bereitschaft,
allem Schwierigen, Schmerzlichen
und Unerwarteten
nicht aus dem Wege zu gehen
und niemals der Tauben und Blinden,
der Kranken und Leidenden zu vergessen.

Helft mir,
Euren endgültigen Willen
mit Verzicht
und dennoch mit ein wenig Wissbegierde
anzuerkennen,
und gebt mir den Mut,
Unglück und Zurückweisung
zu ertragen.

Verhelft mir zu der Erkenntnis,
dass zwischen dauerhaften Werten
und kurzlebigen Freuden
immer Gleichgewicht herrschen muss.

Helft mir,
im Einklang relativer Werte
die reiche Ernte aus Beständigkeit,
Erkenntnis, Schutz,
Verwirklichung und Eingebung
geduldig abzuwarten.

Helft mir,
den mir von Euch anvertrauten Körper
gesund zu erhalten.
Nicht steht es mir zu,
mit dem Leben nach meinem eigenen Willen
zu verfahren,
auch nicht mit meinem eigenen,
das mir zu einstweiliger Obhut
anvertraut wurde,
um es wiederum dem irdischen Zyklus
in würdigem Zustand zurückzugeben,
damit neues Leben sich seiner weiter bedient.

Helft mir,
den Zusammenhang der Einheit in der Dreiheit
in allen ihren Manifestationen zu erkennen,
zu spüren und darüber zu meditieren.
Helft mir,
bei allen Konfrontationen
den Trialog im Dialog zu erkennen.

Lehrt mich, Freude und Schmerz
im Rahmen meiner Verantwortlichkeit
weise und gerecht zu verteilen.

Und letztlich
bitte ich Euch gleichwohl,
mich vor Zorn und Verdammnis zu schützen,
die mir durch andere zuteil werden
oder die ich anderen zufügen könnte.
Lasst mich Euch ungestraft anheimstellen,
was ich tief verabscheue:
diejenigen, die von Macht, Geldgier
oder eigener Hemmungslosigkeit getrieben,
andere schamlos ausnutzen oder bestechen,
um sich noch größere Selbstverherrlichung zu verschaffen ­
sei es der kleinliche Bürokrat,
sei es der von Vorurteil besessene Unwissende.
Öffnet ihre Augen,
auf dass sie ihre lrrwege erkennen
und sie aus eigenem Antrieb
vor Euch bekennen.
Erleuchtet sie
und helft uns,
einander zu vergeben.

Lehrt mich,
unter Feinden,
die es in meinem Umkreis gibt,
zwischen den versöhnlichen
und den unversöhnlichen zu unterscheiden.

Macht mir Mut,
mich mit allen Kräften
um Verständnis des einen zu bemühen
und den anderen zu entwaffnen,
von beiden jedoch zu lernen
und keinen von ihnen wissentlich zu kränken.

Schenkt mir die Eingebung,
die Ihr dem Menschen zugestanden habt,
und leitet mich zur ehrfürchtigen Nachfolge derer,
die Eurem Geiste huldigen,
diesem Geist,
welcher in uns und um uns webt,
dem Geiste des Einen und der Vielen – der Erleuchtung Christi und Buddhas,
Lao-Tses und der Propheten,
der Weisen und Philosophen,
der Dichter, Schriftsteller,
Maler und Bildhauer,
aller schöpferischen Kunst,
aller selbstlosen Menschen,
mit und ohne Namen,
der Stolzen und Bescheidenen,
Männer, Frauen und Kinder
aller Zeiten und Räume,
deren Geist und Vorbild noch heute mit uns leben.

Euer Wille geschehe.

Mögen sie, die mich überleben, nicht trauern, sondern so hilfreich, freundlich und weise, wie sie zu mir waren, auch zu anderen sein. Wenngleich ich von Herzen gern noch etliche Jahre die Früchte meines so glücklichen und reichen Lebens ernten möchte, die mir diese Welt mit ihren mannigfaltigen Kulturen und Völkern schenkt, so weiß ich doch, dass mir soviel Segen, Zuneigung und Schutz zuteil geworden sind, wie für tausend Leben genügen würden und für die ich unendlich dankbar bin.

 

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