Edith Stein
Jahrbuch

Jahreszeitschrift für Philosophie,
Theologie, Pädagogik,
andere Wissenschaften, Literatur, Kunst

Band 1, 1995

Die menschliche Gewalt

 

Vorwort 1995

Noch nie im Laufe ihrer Geschichte waren der Menschheit in dem Maße die Voraussetzungen für ein friedliches Zusammenleben in Freiheit und gegenseitiger Achtung gegeben wie heute. Doch selten war sie so zerrissen und in sich selbst gefährdet wie in unserer Zeit. Obwohl die materielle Versorgung aller möglich wäre, stehen Elend und Hunger neben Luxus und Nahrungsmittelvernichtung. Hochentwickelte Kommunikationssysteme fördern den Austausch in allen Lebensbereichen, aber sie werden begleitet von dem Mißbrauch der Medien und von der Unfähigkeit zu menschlicher Nähe. Politische und religiöse Freiheit, soziale Gerechtigkeit und ökologische Verantwortung gelten als unaufhebbare Ziele, trotzdem sind Fanatismus, Mord, Krieg, Arbeitslosigkeit und die Zerstörung der Natur Realität. Diese paradoxe Situation, in der sich ständig positive Möglichkeiten ins Gegenteil verkehren oder zu verkehren drohen, hat gewiß sehr tiefe, ontologische Wurzeln; ihre gefährliche Zuspitzung erhält sie jedoch durch das gegenwärtige Selbstverständnis des Menschen – und dieses wird von den Wissenschaften und der Literatur entschieden geprägt.

Die Probleme der Gegenwart sind sehr komplex, wirkliche Lösungen naturgemäß nicht leicht zu finden und noch schwieriger zu verwirklichen. Gerade deswegen bleibt es Pflicht aller, zum Zustandekommen des dafür geeigneten Bodens beizutragen. So wächst langsam die Einsicht, dass jeder Versuch – ob im Bereich der Wissenschaft, der Religion, der Politik, der Bildung oder der Kunst – mit wachem und verantwortungsbewußtem Blick auf das Grundphänomen dieses Zeitalters erfolgen muß: die Zerrissenheit eines Daseins, dem die ihm tatsächlich gebotene Möglichkeit des sinnvollen Zusammenseins von Natur und Mensch und der individuellen Selbsterfüllung ständig entgleitet.

In diesem geschichtlichen Zusammenhang versteht sich das Edith Stein Jahrbuch als ein offenes Forum, das den Dialog und die Zusammenarbeit zwischen Philosophie, Theologie, den anderen Wissenschaften und Literatur fördern möchte. Dabei ist der interkulturelle, internationale, interreligiöse und interdisziplinäre Aspekt ein wesentliches Anliegen. Auch soll der Mut zu neuen Ansätzen angeregt werden.

Der Sache des Menschen, welche die Sache des Ganzen ist, haben zu allen Zeiten viele zu dienen versucht. In jüngster Zeit ragt unter ihnen Edith Stein hervor, deren Leben und Werk sich aufgrund tiefgreifender menschlicher, geschichtlicher und religiöser Erfahrungen sowie in wissenschaftlich-philosophischer Auseinandersetzung mit so verschiedenartigen Denkern wie etwa Edmund Husserl, Immanuel Kant, Thomas von Aquin, Dionysius Areopagita und Johannes vom Kreuz herausgebildet hat.

Edith Stein ist in vieler Hinsicht eine lehrreiche Gestalt für unsere Zeit: Ihr Lebensweg durchlief die unterschiedlichsten Stationen – sie war Jüdin, Atheistin, Frauenrechtlerin, Philosophin, Christin, Pädagogin, Ordensfrau und Opfer einer menschenverachtenden Ideologie. Die Erfahrung tiefen Leidens führte sie durch einen schmerzhaften Selbstfindungsprozeß hindurch zur Erhabenheit eines geläuterten Menschen. Diese Grundbewegung ihres Lebens schlägt sich im Ringen ihres Werkes um die Vereinigung grundlegender philosophischer, theologischer, naturwissenschaftlicher, psychologischer, pädagogischer, geschichtlicher und spiritueller Momente nieder.

Somit hat Edith Stein mehr als ein wissenschaftliches Werk hinterlassen. Der lange Weg, der sie zur Güte und zur Gelassenheit vor dem Tode in Auschwitz führte, weist auf eine Möglichkeit des Menschseins hin, deren Erhellung und Verwirklichung eine fundamentalpädagogische Aufgabe bedeutet. Denn sie zielt auf eine Dimension, in welcher dem Menschen erst die Erfahrung der Größe seiner ursprünglichen Bestimmung möglich wird. So stellt sich in Edith Stein eine Frau der Menschheit als würdevolles Symbol dar. Sie erinnert an die Aufgabe des Menschseins, der Versöhnung zwischen den Völkern, aber auch des Dialogs zwischen Philosophie, Theologie und anderen Wissenschaften, der dieser Versöhnung erst Inhalt und Tiefe zu verleihen vermag; und ebenso wird durch sie die Wissenschaft an ihre Pflicht zurückgerufen, sich in einer allgemein verständlichen Sprache den Menschen zuzuwenden, die nach einer authentischen Synthese von Leben, Glauben und Wissen suchen.

Das Konzept für das Edith Stein Jahrbuch ist aus der Erfahrung der epochalen Notwendigkeit hervorgegangen, das Verständnis der Aufgabe von Philosophie, Theologie, Wissenschaft und Literatur vom Nachvollzug ihres ursprünglichen Sinnes her zu erneuern. Die Dringlichkeit dieser Erneuerung wird nicht zuletzt durch die Not des geschichtlichen Augenblickes hervorgerufen. Im Zuge dieser Reflexion setzt die Suche da an, wo der Sinn des Ganzen am entschiedensten verfehlt wird: beim Phänomen der Selbstzerstörung.

Folglich lautet das Hauptthema des vorliegenden ersten Bandes " Die menschliche Gewalt" . Dieses Phänomen wird unter verschiedenen wissenschaftlichen Aspekten untersucht und mit Blick auf grundsätzliche Überwindungsmöglichkeiten erhellt.

Der Aufbau des ersten Bandes soll auch in den folgenden Jahrbüchern im wesentlichen beibehalten werden:

Einem Beitrag zur Phänomenologie bzw. zur Geschichte der phänomenologischen Philosophie, der den Band eröffnet, folgt die interdisziplinäre, auf grundsätzliche Fragestellungen konzentrierte Behandlung des Hauptthemas. Ein dritter Teil ist aktuellen Untersuchungen gewidmet, die in einem breiteren Zusammenhang mit dem Hauptthema stehen; im Falle des vorliegenden ersten Bandes handelt es sich um " Historische und soziologische Studien" . Ferner möchte das Jahrbuch sowohl den fruchtbaren Überblick über den Stand wissenschaftlicher Forschung fördern als auch den kritischen Blick auf Probleme der Zeit, sei es in wissenschaftlicher oder anderer literarischer Darstellungsweise, zur Sprache kommen lassen. Dafür ist die Abteilung " Zeitspiegel" gedacht. Der fünfte Teil " Edith-Stein-Forschung" bringt Arbeiten zur Veröffentlichung, die sich mit Leben und Werk Edith Steins speziell befassen. Jeder Band soll mit einschlägigen aktuellen Mitteilungen abgeschlossen werden.

 

München, im Januar 1995 Der Herausgeber

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