Edith Stein
Jahrbuch

Jahreszeitschrift für Philosophie,
Theologie, Pädagogik,
andere Wissenschaften, Literatur, Kunst

Band 3, 1997

Das Judentum

 

Vorwort 1997

Als Hauptziel setzte sich das Edith Stein Jahrbuch bei seiner Gründung, Autoren und Lesern ein offenes Forum für Dialog zwischen Philosophie, Theologie, andere Wissenschaften, Literatur und Kunst anzubieten. Gespräch geschehen lassen, nicht bloß darüber handeln, war und bleibt seine Devise. Nur wo Vielfalt von unterschiedlichen, ja entgegengesetzten Ansätzen, die sich frei äußern und entfalten können, vorliegt, ist echter Dialog möglich. Die Mannigfaltigkeit von Auffassungen ist im Edith Stein Jahrbuch folglich das Geforderte. Denn allein auf diese Weise kann das jeweils untersuchte Phänomen von sich aus, das heißt von innen her erhellt werden. Über Inhalt, Vielfalt und Strukturierung des jeweiligen Bandes entscheidet einzig und allein das in Frage stehende Phänomen – und zwar nicht ein statisch begriffenes, sondern ein im Prozeß seiner Selbstentfaltung gesehenes, was freilich das Risiko des Experimentierens notwendig einschließt. Somit bewegt sich das Jahrbuch auf der ursprünglichen Dimension Steinschen Denkens: der Phänomenologie, die eigentlich weder eine bestimmte Philosophie noch eine vorgegebene Forschungsrichtung meint. Der Sache nach nennt Phänomenologie die Grundbewegung einer stets in Entwicklung befindlichen Geisteshaltung: das methodisch-dialogische Geschehen, durch das sich Phänomene von ihrem Wesen her öffnen und gestalten und in dem sich Denkansätze, wissenschaftliche Positionen und positive menschliche Grundeinstellungen in Zusammenarbeit und selbstklärender Aus-einander-Setzung erst sinnvoll zu ereignen vermögen. Dadurch wird das Denken auf seine Ursprünge zurückgeführt und erst so er-neuert, für Gegenwart und Zukunft geöffnet.

Der Wunsch, vorbehaltlosem Dialog eine Tür zu öffnen, entstand nach langjähriger Betrachtung des Phänomens, durch das damals Edith Stein mit Millionen Menschen umgebracht wurde und weiterhin Millionen Menschen zugrunde gehen: die dogmatische Intoleranz totalitaristischen Denkens. Dogmatismen – ob religiöse, philosophische, wissenschaftliche, politische oder sonstige – sind alle verheerend und haben eine gemeinsame Wurzel. Die eigene Auffassung als die einzig richtige anzusehen, sich im Besitz der absoluten Wahrheit zu wähnen. Hinter dieser Haltung stecken oft weniger ideologische als psychologische Gründe, wie etwa Unsicherheit und zugleich Drang nach Ausschließlichkeit, Angst, den eigenen Boden zu verlieren, wenn fremde Wahrheiten anerkannt werden. Auf der Stufe dogmatischen Denkens kann nicht gesehen werden, daß die Wahrheit des Eigenen erst durch die Wahrheit des Anderen zu einer solchen wird und alle Möglichkeiten zusammen die abgründige Wahrheit des Ganzen kundtun. Daß sich Dogmatismen nicht als solche bezeichnen, gehört zu ihrem Wesen. Erscheinen sie im Bereich der Religion als Wahrheit verkleidet, die im Namen Gottes richtet, so tarnen sie sich nach wie vor auf dem Feld von Philosophie und Wissenschaft – letztere die neue Religion des Zeitgeistes – vornehmlich mit dem Mantel der Freiheit und der Vernunft, geschmückt mit Schlagworten wie Pluralismus oder Fortschritt.

Nicht nur über Denk- und Redefreiheit zu schreiben, sondern sie konkret geschehen zu lassen, hat sich das Edith Stein Jahrbuch vorgenommen, um in dieser Form – bescheiden genug, aber mit vollem Herzen – der tödlichen Enge monolithischen Denkens entgegenzuwirken.

Wie das Konzept der Zeitschrift in Anbetracht des tiefenphänomenologisch begriffenen Leidenswegs der Philosophin erarbeitet wurde, so erfolgt die Wahl der Themen mit Blick auf das Phänomen Edith Stein. Das Phänomen reicht weiter und tiefer als die Person und das Werk, dessen Erforschung deshalb nur einen Teil der Aufgabe des Jahrbuchs ausmacht.

Von seiner negativen Seite her gesehen stellt das Phänomen Edith Stein die erwähnte geistige Verengung dar, die Menschen aufgrund ihres Geschlechts, ihrer Volkszugehörigkeit, ihres Glaubens und ihres Denkens tötet. Diese vernichtende Starrheit erreichte zwar im Dritten Reich eine bislang unvorstellbar makabre Spitze; als Grundhaltung, die das Andersseiende ausschließt, wirkt sie jedoch durchgehend in der Menschheitsgeschichte und geht über das Religiöse, Wissenschaftliche, Politische und Militärische hinaus. Gewalt stellt ein Tiefenphänomen der Menschenwelt, ja des Seinslebens überhaupt dar. Bevor sie, weil Jüdin, vergast wurde, wurde sie, weil Frau und begabter als ihre meisten Kollegen, von Fachphilosophen beruflich eliminiert; sie wollte nicht nur Philosophieprofessorin werden, sondern eine philosophische Existenz führen und hatte die Begabung dazu, doch sie durfte es nicht. Eine philosophische und eine menschliche Möglichkeit wurden aus niedersten Gründen zerstört.

Positiv jedoch bricht mit dem Phänomen Edith Stein ein epochales Ereignis von höchster Bedeutung durch: eine jüdische und christliche Gestalt als Denkerin von Rang, eine fachlich voll ausgebildete Frau mit ausgewiesenem Können dort, wo bisher ausschließlich Männer waren. Nachdem die Menschheitsgeschichte bislang nur männlich verlaufen ist und folglich wesenhaft auf Macht und Leistung gründet, zeichnet sich langsam aber unverkennbar das Durchbrechen des anderen Seinsprinzips, des weiblichen, ab, das Geborgenheit bietet, Wärme spendet und Seiendes im Guten wachsen läßt. Das Weibliche ist nicht identisch mit Frau. Aber es ist entscheidend, daß das Phänomen in Gestalt einer Frau vordringt, die in einer vom männlichen Prinzip beherrschten Welt nicht weiblich sein durfte. Edith Stein bedeutet, als Tiefenphänomen gesehen, eine Warnung und eine Forderung an den Menschen als solchen und zugleich die Chance eines absoluten Neubeginns. Religionen, Philosophien und Wissenschaften, Politik, Literatur und Kunst, der Alltag und das menschliche Leben überhaupt müssen dringend auf die weibliche Wurzel des Seins zurückgehen und Liebe erfahren, auf daß eines Tages vielleicht die Vereinigung der beiden Prinzipien – des Gemüts und der Vernunft, des Weiblichen und des Männlichen, oder wie es tiefenphänomenologisch heißt, der Tiefe und der Ober-Fläche – gelinge und so endlich der Mensch zu existieren beginne.

Der Dialog geschieht nicht nur durch die Andersartigkeit der Aufsätze innerhalb ein und desselben Bandes. Auch die in den verschiedenen Jahrbüchern erörterten Tiefenphänomene stehen im Gespräch miteinander. Der erste Band hatte als Hauptthema Die menschliche Gewalt und weist als eine ihrer tiefsten Wurzeln die einseitig " männliche" Entwicklung der Menschheitsgeschichte nach. Als Antwort darauf setzte sich der zweite Band mit dem Phänomen Das Weibliche auseinander. (den zahlreichen Lesern, die sich kritisch oder anerkennend zum Buch geäußert haben, möchte ich für ihr Interesse aufrichtig danken.) Der vorliegende Band ist dem Judentum gewidmet, in dem die tiefste Identität Edith Steins wurzelt und das darum ihre anderen Identitäten vereinigt und mitträgt; auf seine Bedeutung braucht nicht eigens hingewiesen zu werden. Mit entsprechender Sorgfalt und Liebe ist dieser Band vorbereitet worden. Ohne die freundliche und großzügige Unterstützung von Frau Ellen Presser, Kulturzentrum der Israelitischen Kultusgemeinde (IKG) München, wäre er jedoch in dieser Form nicht möglich gewesen. Ihr sei gedankt. Als Rahmenthema wird der vierte Band Das Christentum behandeln.

München, im Januar 1997 Der Herausgeber

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