Edith Stein
Jahrbuch

Jahreszeitschrift für Philosophie,
Theologie, Pädagogik,
andere Wissenschaften, Literatur, Kunst

Band 5, 1999

Das Christentum (II. Teil)

 

Vorwort

In diesem Band wird die Fundamentalreflexion fortgesetzt, die das Edith Stein Jahrbuch 1998 unter dem Titel "Das Christentum. Erster Teil" ansetzte. War dieser vorwiegend der Erforschung der philosophisch-theologischen Grundlegung in ihrem geschichtlichen Her-vortreten und ihrer gegenwärtigen Problemlage gewidmet, so der vorliegende mehr der my-stischen, pastoralen und spirituellen Dimension. Im insgesamt rund tausend Seiten umfas-senden Werk wird ein fundiertes Verständnis des Christentums im Hinblick auf die heutige plurale Welt kritisch zu gewinnen versucht: a) Weit davon entfernt, a priori in Übereinstim-mung mit dem ihm Aufgetragenen zu sein, hat sich das Christentum in jeder Epoche ent-sprechend neu zu finden. b) Von Unsicherheiten und Orientierungslosigkeit geplagt, stellt sich das heutige Menschentum fragend dar, als ob es gerade geboren worden wäre.

Von der Geschichte hat jede Epoche zu lernen. Aber die Vergangenheit enthält nicht oh-ne weiteres die Lösung gegenwärtiger Probleme. So hat jede Zeit die doppelte Aufgabe, tra-ditionsverbunden und kreativ zu sein. Das gilt für die beiden Phänomene, womit sich die Jahrbücher 1998 und 1999 befassen: Das Christentum und unsere Welt.

Aus dem historischen Jesus wurde gleich zu Beginn der Christus des Glaubens. Aber erst seit Mitte des 18. Jahrhunderts – namentlich mit Reimarus (1694-1768) – begann die damit verbundene Problematik den einschlägigen Wissenschaften zum Bewußtsein zu kommen. Ob mit der vor allem von Paulus programmatisch gezielten Deutung auf Tod und Auferste-hung hin nicht auch das die Liebe zum irdischen Leben betonende Jesus-Ereignis im Wesen verändert wurde, ist eine Frage, die sich m.E. mit der historisch-kritischen Methode nicht adäquat beantworten lassen dürfte. Kann ein nur historisches Vorgehen das Jesus-Phäno- men als seinsstiftendes Ereignis überhaupt erkennen? Sprengt dieses nicht gar den Rahmen aller bisherigen Seinsauffassungen? Im Anschluß an Heideggers Ontologie stellte Bultmann (1884-1976) die Jesus-Frage innerhalb eines rein anthropologischen Seinsverständnisses auf. Die geschichtliche Entwicklung hat das Heideggersche Seinsdenken, da an sich – selbst nach der Kehre – radikal menschenbezogen, als einseitig und darum zu eng für das Gefor-derte erwiesen. Eine bloß "daseinsmäßig" gedachte Philosophie vermag das Eigentümliche des mit der Jesus-Gestalt durchbrechenden Tiefenphänomens nicht zu sehen.

Mitten im technischen Zeitalter sind Philosophie, Theologie und Wissenschaften, vor al-lem die Naturwissenschaften, von der Frage nach dem Sinn ihres Tuns beunruhigt. In die-ser Situation ist eine tiefergreifende Ontologie vonnöten, die das Phänomen Mensch im kosmischen Gesamtzusammenhang neu zu erhellen vermöchte. Von daher erst wäre das Tiefenphänomen sichtbar, das Jesus offenbart. Daß sich eine solche Tiefenontologie nur aus der Zusammenarbeit aller Wissenschaften ergeben könnte, ist eine Ansicht, die als Fortfüh-rung der mit Edmund Husserl beginnenden modernen Phänomenologie (als gegenwärtiger Grundform der Philosophie) betrachtet werden kann. Der stets in lebendiger Entwicklung zu begreifenden Idee der Phänomenologie blieb Edith Stein durch all ihre historischen Wand-lungen hindurch verpflichtet. So wird das Jahrbuch, das dem Phänomen ihrer Gestalt entspre-chend den Namen der jüdisch-christlichen Philosophin trägt, von den gleichen Sorgen wie ihr Leben und Werk bewegt: eine Welt in Krisis, die nach Frieden und gemeinsam verbin-dender Ordnung sucht, darin ein Menschentum, das verzweifelt nach dem Sinn seiner selbst fragt. In diesem weltgeschichtlichen Horizont hebt sich jedoch unzeitlich dringlich die gro-ße Frage ab: Wozu lebe ich?

 

München, im Advent 1998 Der Herausgeber

 

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