Jahre der Entscheidung

Trotz Ediths glänzender Leistungen machte sich die Mutter Sorgen um ihre Lieblingstochter. Warum? Ediths Interessen waren einseitig intellektuell. Sie war eine radikale Frauenrechtlerin geworden, wie Edith Stein im Rückhlick auf jene Jahre von sich selbst bekannte. Was jedoch das Herz der Mutter vor allem belastete, war die Entdeckung: Ihre Edith ist zwar klug, aber nicht fromm. Sie hatte sich hisher von jedem Religionsbekenntnis ferngehalten. Für das Judentum zeigte sie wenig Interesse. Sie begleitete aus kindlicher Pietät ihre geliebte Mutter zur Synagoge, sooft diese es wünschte. Aber dort erbaute sie sich mehr an der Andacht ihrer ganz in Gott versunkenen Mutter als an der gottesdienstlichen Feier. Die Sorge der Mutter um Edith war nicht unbegründet. Denn Edith Stein hatte sehr früh den Glauben der Väter abgelegt und nannte sich selbst Atheistin, weil sie nicht an das Dasein Gottes glauben konnte. Diese Entwicklung hatte bereits eingesetzt, ehe sie die Schule verließ und nach Hamhurg ging. Sie selbst schreibt: "Es fiel mir nicht schwer, von zu Hause fortzugehen. Es war die Zeit, in der ich meinen Kinderglauben verlor und anfing, mich als selbständiger Mensch aller Leitung durch Mutter und Geschwister zu entziehen ... (In Hamhurg) habe ich mir das Beten ganz bewußt und aus freiem Entschluß abgewöhnt. Über meine Zukunft dachte ich nicht nach, aber ich lebte weiter in der Überzeugung, daß mir etwas Großes bestimmt sei."

Als Dreizehn-, Vierzehnjährige war Edith Atheistin, eine Gottlose geworden. Ganz bewußt und aus freiem Entschluß hat sie sich das Beten abgewöhnt. Gott spielt in ihrem Leben keine Rolle. Damit ist jedoch nicht alles gesagt üher das, was in jenen Jahren in ihrem Innersten vorging.

Im Rückblick auf jene Jahre schrieb sie später einmal: "Meine Suche nach der Wahrheit war ein einziges Gebet." Ein großartiges Wort, ein Wort des Trostes für alle, die sich mit dem Glauben schwertun. Es ist Edith Steins Eigenart, nichts ungeprüft hinzunehmen, nicht einmal den Glauben ihrer Väter. Sie will den Dingen auf den Grund gehen. Darum sucht sie unerbittlich nach der Wahrheit. Begleiten wir sie weiter auf dieser Suche. Während ihrer psychologischen Studien in Breslau stößt Edith Stein immer wieder auf den Namen Edmund Husserl. Als sie wieder einmal im psychologischen Seminar vor einem Stoß Bücher saß und ein Referat ausarbeitete, sagte ein Husserlschüler, Dr. Moskiewicz, zu ihr: "Lassen Sie doch all das Zeug und lesen Sie das hier; die anderen Leute hahen doch alles daher." Er reichte ihr ein dickes Buch, es war der II. Band von Husserls "Logische Untersuchungen", und begeisterte sie für Göttingen: "In Göttingen wird nur philosophiert -Tag und Nacht, beim Essen, auf der Straße, überall. Man spricht nur von Phänomenen'." Ediths Vetter Richard Courant war seit kurzem Privatdozent für Mathematik an der dortigen Universität. So zog Edith im Sommersemester 1913 nach Göttingen. Am schwersten fiel ihr die Trennung von der Mutter. Sie ahnte im tiefsten Herzen, daß es "ein scharfer, einschneidender Abschied war."

In Göttingen studierte sie Philosophie, Psychologie, Geschichte und Germanistik, legte im Januar 1915 das Staatsexamen in philosophischer Propäideutik, Geschichte und Deutsch mit der Note Eins ab. Das Besondere aber war, daß sich Edith Stein immer stärker der Philosophie zuwandte. In Breslau hatte sie noch mit der Psychologie geliebäugelt und sich sogar ein Thema für eine psychologische Dissertation geben lassen. Damit war es nun aus. "Es war von vornherein verfehlt, an eine psychologische Arbeit zu denken. Mein ganzes Psychologiestudium hatte mich ja nur zu der Einsicht geführt, daß diese Wissenschaft noch in den Kinderschuhen stecke, daß es ihr noch an dem notwendigen Fundament geklärter Grundbegriffe fehle und daß sie selbst nicht imstande sei, sich diese Grundbegriffe zu erarbeiten. Und was ich von der Phänomenologie bisher kennengelernt hatte, entzückte mich darum so sehr, weil sie ganz eigentlich in solcher Klärungsarbeit bestand und weil man sich hier das gedankliche Rüstzeug, das man brauchte, von Anfang an selbst schmiedete. Die Erinnerung an mein psychologisches Thema war anfangs in Göttingen noch ein leichter Druck, aber ich schüttelte ihn bald ab. Das liebe alte Göttingen! Ich glaube, nur wer in den Jahren zwischen 1905 und 1914, der kurzen Blütezeit der Göttinger Phänomenologenschule, dort studiert hat, kann ermessen, was für uns in diesem Namen schwingt." In diesen Worten spiegelt sich das ihr angeborene Streben, den Dingen auf den Grund zu gehen.

Edith Stein ging in und um Göttingen auf Erkundungsgänge. "Von Kindheit an hatte es mir Freude gemacht, auf Entdeckungen auszugehen." Aber noch wichtiger waren ihr die Erkundungsgänge in der Philosophie. Sie war auf der unerbittlichen Suche nach der Wahrheit. Am ersten "offenen Nachmittag", den Husserl für seine Hörer zu Hause abhielt, war Edith Stein als erster Gast erschienen, um mit dem Meister philosophische Fragen zu erörtern.

Für die nach Wahrheit suchende Edith Stein waren aber noch weitere Begegnungen von Bedeutung. Sie lernte Professor Dr. Reinach kennen, einen geborenen Mainzer, Husserls rechte Hand. Ihm und seiner Frau wußte sie sich bald freundschaftlich verbunden. Herr und Frau Reinach waren wie sie jüdischer Herkunft. Im Freundeskreis der Phänomenologen lernte Edith Stein die beiden Husserlschüler Hedwig Martius und deren Mann Dr. Conrad kennen. Mit Frau Hedwig Conrad-Martius hat sie zeitlebens eine tiefe Freundschaft verbunden.

Wichtig ist in jenen Jahren auch die Begegnung mit Max Scheler, der von der Philosophischen Gesellschaft wiederholt zu Vorträgen nach Göttingen eingeladen wurde. Durch Max Scheler kommt sie zum erstenmal mit katholischen Ideen in Berührung. Sie schreibt darüber und gibt so Einblick in eine Phase ihrer inneren Entwicklung: "Für mich wie für viele andere ist in jenen Jahren sein Einfluß weit über das Gebiet der Philosophie hinaus von Bedeutung geworden. Ich weiß nicht, in welchem Jahr Scheler zur katholischen Kirche zurückgekehrt ist. Es kann damals nicht sehr lange zurückgelegen haben. Jedenfalls war es die Zeit, in der er ganz erfüllt war von katholischen Ideen und mit allem Glanz seines Geistes und seiner Sprachgewalt für sie zu werben verstand. Das war meine erste Berührung mit dieser mir bis dahin völlig unbekannten Welt. Sie führte mich noch nicht zum Glauben. Aber sie erschloß mir einen Bereich von ,Phänomenen', an denen ich nun nicht mehr blind vorbeigehen konnte. Nicht umsonst wurde uns beständig eingeschärft, daß wir alle Dinge vorurteilsfrei ins Auge fassen, alle ,Scheuklappen' abwerfen sollten. Die Schranken der rationalistischen Vorurteile, in denen ich aufgewachsen war, ohne es zu wissen, fielen, und die Welt des Glaubens stand plötzlich vor mir. Menschen, mit denen ich täglich umging, zu denen ich mit Bewunderung aufblickte, lebten darin. Sie mußte zum mindesten eines lebhaften Nachdenkens wert sein. Vorläufig ging ich noch nicht an eine systematische Beschäftigung mit den Glaubensfragen, dazu war ich noch viel zu sehr von anderen Dingen ausgefüllt. Ich begnügte mich damit, Anregungen aus meiner Umgebung widerstandslos in mich aufzunehmen, und wurde -fast ohne es zu merken -dadurch umgebildet."

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