Das Erlebnis des ersten Weltkrieges

Mitten in die Göttinger Studienzeit fiel der Ausbruch des ersten Weltkrieges, über den sie schreibt: "Den Ausbruch des Krieges habe ich als Durchbrechung meines persönlichen Lebensganges erlebt und zugleich als unser gemeinsames Schicksal." Nach dem Staatsexamen meldete sie sich freiwillig als Rot-Kreuz-Helferin und tat in der Seuchenabteilung des Kriegslazarettes in Mährisch-Weißkirchen ihren Dienst. Was hat sie dazu bewogen? Einmal war es die Solidarität mit ihren männlichen Kommilitonen, die an der Front unter Einsatz ihres Lebens kämpfen mußten. Sie hielt es für ihre menschliche Pflicht, das ihr Mögliche zu tun. Zum anderen bewog sie zu diesem Einsatz die Liebe zu ihrem deutschen Vaterland. In Husserls philosophischem Jahrbuch schrieb sie später in einer Abhandlung: ,Ich lebe zum Beispiel nicht bloß als Staatsbürger, sondern ich kann meinen Staat und mein Volk betrachten, ich liebe sie und bringe ihnen Opfer." Sie litt sehr unter dem Zusammenbruch Deutschlands 1918 und wurde politisch aktiv. Edith Stein hing untrennhar an ihrem jüdischen Volk, sie fühlte sich zugleich aber auch ganz als Deutsche und liebte das deutsche Volk und Vaterland.

Im Jahre 1916 ging Edmund Husserl von Göttingen nach Freihurg i. Br. und nahm seine hochbegabte Schülerin Edith Stein als Assistentin mit. Hier lernte sie Martin Heidegger kennen. 1917 promovierte sie in Freiburg mit der Arbeit "Das Problem der Einfühlung".

In das Jahr 1917 fällt nun ein Erlebnis, das für ihren inneren Weg wichtig wurde. Im November dieses Jahres fiel Professor Reinach in Flandern. Ein Jahr zuvor hatten Herr und Frau Reinach die Taufe empfangen und waren protestantische Christen geworden. Frau Reinach bat Edith Stein, ihrem gefallenen Mann die traurige Freundespflicht zu erfüllen und seinen philosophischen Nachlaß zu ordnen. Edith Stein war selbstverständlich dazu bereit, doch fürchtete sie sich vor der Begegnung mit Frau Reinach. Was für ein Wort des Trostes sollte sie der gebrochenen und verzweifelten Witwe sagen, die nach kurzer, sehr glücklicher Ehe ihren Gatten verloren hat? Doch es kam ganz anders. Sie fand keine gebrochene, verzweifelte Witwe vor, sondern eine Frau, die sich am Kreuz Christi festhielt und sich beim Kreuz Kraft holte, ihren abgrundtiefen Schmerz tapfer zu tragen. Diese Erfahrung traf Edith Stein im Innersten. Sie schreibt später über diese Begegnung: "Es war dies meine erste Begegnung mit dem Kreuz und der göttlichen Kraft, die es seinen Trägern mitteilt. Ich sah zum erstenmal die aus dem Erlöserleiden Christi geborene Kirche in ihrem Sieg üher den Stachel des Todes handgreiflich vor mir. Es war der Augenhlick, in dem mein Unglaube zusammenbrach, das Judentum verblaßte und Christus aufstrahlte: Christus im Geheimnis des Kreuzes." Diese Eröffnung, die Schwester Benedicta erst kurz vor ihrem Tod einem Priester machte, beschloß sie mit den Worten: "Darum konnte ich auch bei meiner Einkleidung keinen anderen Wunsch äußern, als im Orden vom Kreuz" genannt zu werden.

Edith Stein fühlte sich hei ihrer philosophischen Tätigkeit wohl und hatte Erfolg. Professor Husserl empfiehlt sie für die Habilitation. Unter dem 6. Februar 1919 schreibt er: "Sollte die akademische Laufbahn für Damen eröffnet werden, so könnte ich sie an allererster Stelle und aufs wärmste zur Habilitation empfehlen". Dies war jedoch nur die äußere Seite jener Freiburger Jahre. In ihrem Inneren wartet sie auf etwas anderes. "Ich mache Pläne für mein weiteres Leben und richte im Hinhlick darauf mein gegenwärtiges Leben ein, bin aber im Grund überzeugt, daß irgendein Ereignis eintreten wird, das alle meine Pläne über den Haufen wirft. Diesem echten, lebendigen Glauben versage ich meine Zustimmung und lasse ihn nicht in mir wirksam werden." Diese Sätze finden sich zwar in einer philosophischen Abhandlung, in der das "Ich", von dem sie spricht, einen methodischen Sinn hat. Da Edith Stein in Husserls Schule gelernt hatte, grundsätzliche Erwägungen mit Beispielen der selbst erlebten Wirklichkeit zu erläutern und zu belegen, dürfen wir annehmen, daß sie hier von ihrem eigenen Innern spricht. Unter dem erfolgreichen wissenschaftlichen Arbeiten verbirgt sich eine geheimnisvolle Spannung: Sie sucht nach der Wahrheit und erwartet sie, und doch wird dieses Ersehnte noch nicht wirksam -bis zum entscheidenden Erlebnis.

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