VERLIEREN UM ZU GEWINNEN
DER WEG DER
SELIGEN TERESIA BENEDICTA VOM KREUZ

(EDITH STEIN)

Rundbrief der Generaloberen

Fr. Camilo Maccise OCD
und Fr. Joseph Chalmer O.Carm.

zu ihrer Heiligsprechung
Rom - 1998



Liebe Schwestern und Brüder im Karmel!

1. Am kommenden 11. Oktober dieses Jahres wird unsere Mitschwester Teresia Benedicta vom Kreuz (Edith Stein) im Petersdom zu Rom heiliggesprochen. Diese Feier bedeutet das Ende einer Suche nach der Wahrheit auf dem Weg des Evangeliums, der von Leiden und Entsagung gekennzeichnet ist; doch auf diesem Weg hat unsere neue Heilige an der doppelten Dimension des Paschamysteriums, dem Tod und der Auferstehung Jesu, Anteil erhalten; sein Leben zu verlieren, um es für Christus zu gewinnen (vgl. Mt 10,39). Der Satz, den sie beim Verlassen des Karmels in Echt in Holland zu ihrer Schwester Rosa gesagt und diese dabei an der Hand genommen hat: „Komm, wir gehen für unser Volk!" offenbart ihre innerliche Einstellung der Hingabe. Mit der Vernichtung der katholisch gewordenen Juden, die sie am Anfang verschonen wollten, rächten sich die nationalsozialistischen Machthaber an den holländischen Bischöfen, die in einem Hirtenbrief gegen die Verschleppung der Juden protestiert hatten. So starb Edith Stein als Jüngerin Jesu, doch gab sie sich in ihrem Märtyrertod zugleich auch für die Brüder und Schwestern ihres Volkes hin.

Die Heiligsprechung Edith Steins ist ein erneuter Beweis, daß Gott auch an der Schwelle zum dritten Jahrtausend in seiner Kirche lebt und wirkt, besonders aber uns, die wir zum Karmel gehören. Das Leben dieser großen Frau - Jüdin, Wahrheitssucherin, Jüngerin Jesu - ist für das Verhältnis zwischen Glauben und Wissenschaft, den ökumenischen Dialog, das Ordensleben, die Spiritualität und sowohl innerhalb als auch außerhalb der Kirche von Bedeutung.

In Offenheit für die Stimme des Geistes, der durch das Leben und das Martyrium unserer Mitschwester zu uns spricht, wollen wir uns ihrer Erfahrung und Lehre stellen, um dadurch unser Leben zu erneuern und unsere Berufung und Sendung mit neuem Leben und neuem Ernst zu erfüllen.


I

EDITH STEIN - EINE FRAU UNSERER ZEIT

 

2. Als Frau unserer Zeit gibt uns Edith Stein wertvolle Hinweise und hilft uns, manche einseitigen Einschätzungen, die einer vollen Anerkennung der Würde der Frau und ihres spezifischen Beitrags in Gesellschaft und Kirche im Wege stehen, zu überwinden. Heutzutage „bedarf es dringend einiger konkreter Schritte, davon ausgehend, daß den Frauen Räume zur Mitwirkung in verschiedenen Bereichen und auf allen Ebenen eröffnet werden, auch in den Prozessen der Entscheidungsfindung, vor allem dort, wo es um sie selbst geht".(1)

Wahrheitssucherin

Für die Wahrheit, die sie suchte und schließlich fand, hat Edith Stein einen guten Teil ihres Lebens eingesetzt. Sie gibt zunächst ihren jüdischen Glauben auf und vertieft sich in die Philosophie, um so den Sinn des menschlichen Daseins zu verstehen. Aus dem Unglauben heraus wird sie katholisch und erwirbt in der Nachfolge Jesu Schritt für Schritt die Erfahrung der „Kreuzeswissenschaft", die sie befähigt, in den Karmel einzutreten und später dann für ihren Glauben und für ihr Volk zu sterben.

Im Überdenken ihrer Suche nach der Wahrheit kommt sie zur Überzeugung, daß „Gott die Wahrheit ist. Wer die Wahrheit sucht, der sucht Gott, ob es ihm klar ist oder nicht";(2) und: „Der Wahrheitssucher lebt vorwiegend im Herzpunkt seiner Verstandestätigkeit; wenn es ihm wirklich um die Wahrheit zu tun ist (nicht um ein bloßes Sammeln von Einzelnerkenntnissen), dann ist er vielleicht dem Gott, der die Wahrheit ist, und damit seinem eigenen Innersten, näher als er selbst weiß".(3)

4. Ihr lange Suche nach Wahrheit und Echtheit findet in der Begegnung mit Teresa von Jesus ihre Erfüllung. Es war im Sommer 1921, als Edith im Haus ihrer Freunde weilte und in der Bibliothek die Autobiographie der Heiligen aus Avila fand: „Ich griff hinein aufs Geratewohl und holte ein umfangreiches Buch hervor. Es trug den Titel Leben der Heiligen Theresia von Avila, von ihr selbst geschrieben Ich begann zu lesen, war sofort gefangen und hörte nicht mehr auf bis zum Ende. Als ich das Buch schloß, sagte ich mir: 'Das ist die Wahrheit'".(4) Als sie später über die Vida der hl. Teresa nachdachte, erzählt sie, warum es sie so betroffen gemacht hat, und enthüllt damit ihren brennenden Durst nach Wahrheit: „Außer den Konfessionen des heiligen Augustinus gibt es wohl kein Buch der Weltliteratur, das wie dieses den Stempel der Wahrhaftigkeit trägt, das so unerbittlich in die verborgensten Falten der eigenen Seele hineinleuchtet und ein so unerschütterliches Zeugnis von den 'Erbarmungen Gottes' ablegt".(5)

Teresa von Jesus hat die Bekehrung Edith Steins ganz entschieden beeinflußt; deshalb verspürt sie von Anfang an den Ruf, sich im Karmel für das Wohl der Menschheit dem Dienst des Herrn zu weihen. Im Seligsprechungsprozeß sagt ein Zeuge aus, daß die Heilige ihm folgendes erzählt habe: „Ich habe von der Dienerin Gottes erfahren, daß sie den Karmel deshalb schätzte, weil sie dort mehr Zeit für das persönliche Beten hatte. Seit ihrer Taufe strebte sie zum Karmel. Ein geschlossenes Benediktinerinnenkloster wurde von ihr nie in Erwägung gezogen, weil dort nicht die ganze Zeit für das Beten zur Verfügung steht, die sie benötigte".(6)


Bekehrung als Gewinn und Verlust

5. Es ist die Begegnung mit dem Kreuz und dessen Kraft gewesen, die es einer protestantischen Freundin, Anne Reinach, Witwe des Philosophen Adolf Reinach, mitteilte, was schließlich das durch ihren Unglauben aufgerichtete Hindernis aus dem Weg räumte. Diese Begegnung ist uns mit folgenden Worten überliefert: „Es war dies meine erste Begegnung mit dem Kreuz und der göttlichen Kraft, die es seinen Trägern mitteilt. Ich sah zum ersten Mal die aus dem Erlöserleiden Christi geborene Kirche in ihrem Sieg über den Stachel des Todes handgreiflich vor mir. Es war der Augenblick, in dem mein Unglaube zusammenbrach, das Judentum verblaßte und Christus aufstrahlte: Christus im Geheimnis des Kreuzes".(7) Später, als Edith schon in Echt war, schreibt sie an die Priorin ihres Klosters in Echt: „Eine scientia crucis (Kreuzeswissenschaft) kann man nur gewinnen, wenn man das Kreuz gründlich zu spüren bekommt. Davon war ich vom ersten Augenblick an überzeugt und habe von Herzen: Ave, Crux, spes unica! (Sei gegrüßt, Kreuz, unsere einzige Hoffnung) gesagt".(8)

6. Edith Stein konvertierte 1922 im Alter von 31 Jahren zum katholischen Glauben. Der tiefe Sinn ihrer Bekehrung liegt in der Tatsache begründet, daß sie im Kreuz den Weg zur Auferstehung gefunden hat, darin, daß ihr der Widerspruch des Evangeliums des Verlierens um zu gewinnen zu einer tiefen Erfahrung geworden war. Die Probleme, die ihre Konversion bei den Mitgliedern ihrer Familie verursachte, ließen auch nicht lange auf sich warten, da diese den Grund für diese Entscheidung nicht verstehen konnten. In ihrem Buch Kreuzeswissenschaft erläutert sie die zwischen Leiden und Herrlichkeit bestehende Verbindung. Die Passion und der Tod Jesu verzehren unsere Sünden im Feuer. In dem Maße nun, in dem wir diese Wahrheit im Glauben annehmen und Jesus nachzufolgen versuchen, wird er uns durch sein Leiden und Kreuz zur Herrlichkeit der Auferstehung geleiten. Edith verbindet diese Überzeugung mit der Erfahrung der Kontemplation, die auf dem Weg über die Läuterung zur Liebeseinung mit Gott führt: „Daraus erklärt sich ihr zwiespältiger Charakter. Sie ist Tod und Auferstehung. Nach der Dunklen Nacht strahlt die Lebendige Liebesflamme auf".(9) Auf diese Weise gelangt man in den Besitz der „Kreuzeswissenschaft".

Dieser Bekehrungsprozeß ist Edith selbstverständlich nicht leicht gefallen. Es waren Jahre des Suchens, die schließlich durch die Begegnung mit der Autobiographie der hl. Teresa von Jesus ihr Ende fanden. Wie in dieser, nahm Christus auch in ihrem Leben immer mehr den wichtigsten Platz ein. In ihm begegnet sie der WAHRHEIT und dem Freund, mit dem sie immer im Gespräch verweilen kann. So fehlte ihrer Konversion nicht der Akzent von Radikalität, denn sie dachte ursprünglich, daß sie alles Irdische aufgeben müsse, um ausschließlich für die himmlischen Dinge zu leben. Nur allmählich begriff sie, daß „je tiefer jemand in Gott hineingezogen wird, er desto mehr muß auch in diesem Sinn 'aus sich herausgehen' muß, d. h. in die Welt hinein, um das göttliche Leben in sie hineinzutragen".(10)

7. Der menschliche und geistliche Weg Edith Steins ist der Weg einer Frau unserer Zeit. Von ihrer persönlichen Erfahrung als Frau her und aufgrund ihrer philosophisch-anthropologischen Reflexion über das Sein und die Aufgabe des Menschen macht sie sich ihre Gedanken über die Rolle der Frau in Gesellschaft und Kirche. Ihre geistige Fähigkeit, ihre akademische und berufliche Ausbildung und ihre Lehrtätigkeit machten sie zu einer Frau, die die Herausforderungen ihres Auftrags von ihrer bewußten Identität als Frau her lebte. Edith verstand es, diese Herausforderungen, die die Situation in Gesellschaft und Kirche damals aufgab, in Klarheit und Ausgewogenheit anzugehen.

Als Lehrerin in Speyer von 1923 bis 1931 verstand sie es, sich den Problemen der Frauenbildung zu stellen, und verhalf dadurch ihren Schülerinnen zur Vertiefung ihrer Eigenschaften als Frauen, die wie der Mann als Ebenbild Gottes geschaffen sind. Dabei stellte sie auch die übernatürliche Berufung der Frau und die Ethik der Frauenberufe heraus. Grundlage für ihre Reflexion war eine genaue Analyse der Eigenschaften der weiblichen Psyche.

Auf diese Weise verstand sie es, vom Reichtum eines christlichen Lebens als Frau, das ganz in die Wirklichkeit der Welt eingebunden ist, Zeugnis abzulegen, und es wird verständlich, warum sie sich dem Unterricht als einem Apostolat gewidmet hat, obwohl sie sich nicht mehr wie früher bemüht hat, als Frau einen Lehrstuhl an einer Universität zu erhalten. Bei ihrer Tätigkeit als Lehrerin gelang es ihr, den direkten und persönlichen Umgang mit ihren Schülerinnen mit fachlicher Kompetenz zu vereinen. Sie erinnern sich an sie immer als eine offene und verständnisvolle Frau, die in der Einschätzung der Frau und in ihrem selbstlosen Bemühen um deren Förderung ihrer Zeit weit voraus war. Deshalb wurde sie Mitglied beim Verein Katholischer bayerischer Lehrerinnen und stand mit besonderer Liebe auch den Junglehrerinnen zur Verfügung. Dadurch dehnte sich ihr Wirkungskreis noch weiter aus, so daß sie für die Frau ihrer und unserer Zeit zur Wegweiserin wurde.


Besonderheit der Berufung der Frau

8. Der Ausgangspunkt für die philosophisch-anthropologische Reflexion Edith Steins ist ihre eigene, durch die Hl. Schrift, besonders deren ersten Seiten erleuchtete Erfahrung, wo sie im Zusammenhang mit der Erschaffung des Menschen Mann und Frau in ihrer Gleichheit und Verschiedenheit als Ebenbild Gottes vorstellt: „Ursprünglich war beiden gemeinsam aufgegeben, die Bewahrung der eigenen Gottähnlichkeit, die Herrschaft über die Erde und die Fortpflanzung des Menschengeschlechtes".(11)

Vom philosophisch-anthropologischen, nicht soziologischen Standpunkt aus unterstreicht Edith zwei besondere Merkmal der weiblichen Psyche: die Hingabe der Person in Zusammenarbeit mit dem Mann und die Mutterschaft. Ihre Berufung als Gefährtin des Mannes bringt sie dazu, alles, was ihn betrifft, mit ihm zu teilen, sei es klein oder groß. Sie geht an der Seite des Mannes, in liebender Teilnahme an seinem Leben. „Natürliche Einfühlungsgaben in fremdes Wesen und fremde Bedürfnisse, Anpassungsfähigkeit und Anpassungswilligkeit sind darin beschlossen".(12) Die Frau hat ein tiefes Bedürfnis, das Leben mit einem anderen zu teilen und deshalb die Fähigkeit zu selbstloser Liebe, Hingabe und Selbstzurücknahme. Andererseits drängt sie ihr Verlangen nach der Mutterschaft zu allem, was mit dem Leben und dem Menschen zu tun hat und zu einer mehr konkreten und kontemplativen Erkenntnisweise. Ihr Wesen als Mutter und Gefährtin richtet sie auf all das aus, was Bezug zum Menschen hat. Sie hat die Aufgabe, Kinder zu gebären und hat als Nachfolgerin Evas, der „Mutter aller Lebendigen", auch den Auftrag der „Vorbereitung auf die Wiedergewinnung des Lebens".(13) Das bringt Edith Stein dazu, den Sinn und die Größe einer geistlichen Mutterschaft im Ordensleben herauszustellen, das in Übereinstimmung mit den Eigenschaften des Frauseins das Verlangen der Frau nach Ganzheit verwirklicht: „In selbstvergessener Liebe sich Gott restlos hinzugeben, das eigene Leben enden zu lassen, um für Gottes Leben in sich Raum zu schaffen, ist Motiv, Prinzip und Ziel des Ordenslebens".(14)


Eine Botschaft für die Frau von heute

9. Edith Steins Erfahrung und philosophische Reflexion über Wesen und Aufgabe der Frau sind in der Kirche und Welt von heute von großer Bedeutung, da sie im Hinblick auf die Förderung der Frau und die Notwendigkeit, ihr im gesellschaftlichen, wirtschaftlichen, politischen und religiösen Leben Bereiche zu eröffnen, von Tag zu Tag sensibler werden. Ein Feminismus, der diesen Namen zu Recht verdient, findet im Leben und in den Schriften Edith Steins wertvolle Hinweise, um die Würde und die Sendung der Frau auf der Grundlage ihrer in ihrem tiefsten Wesen verwurzelten Identität und Sendung zu leben und zu fördern. Ähnliches können wir im Hinblick auf das Ordensleben sagen, das, wenn man es als Geschenk seiner selbst an Gott und die Mitmenschen versteht, eine vollständige Verwirklichung der innersten Regungen der Frau sind: Hingabe, Mutterschaft, Dienstbereitschaft.

Ideal dieser Werte der Frau ist für Edith Stein die Jungfrau Maria. In ihr „wird das weibliche Geschlecht dadurch geadelt, daß der Heiland von einer menschlichen Mutter geboren wird, daß eine Frau die Pforte war, durch die Gott in das Menschengeschlecht Eingang fand".(15) Sie gibt sich ihrer Sendung durch das Verschenken ihr selbst in stillem Vertrauen hin und stellt ihr ganzes Wesen für den Dienst des Herrn für die Gründung des Reiches zur Verfügung.(16) Diese Aufgabe Marias macht sie für die Frau in allen Bereichen des menschlichen Lebens - Familie, Gesellschaft und Kirche - zum Vorbild, denn in der Mittelstrophe des Magnificat zeigt sie, daß sie von den sozialen und politischen Problemen betroffen ist, wenn die Mächtigen von ihren Thronen gestoßen werden. So können weder der Mann noch die Frau gegenüber den tatsächlichen Problemen unbeteiligt bleiben oder auf die sich ergebenden Herausforderungen mit Gleichgültigkeit reagieren.(17)


II

VOM JUDENTUM ZUM UNGLAUBEN UND ZUM CHRISTLICHEN GLAUBEN


10. In dem für Edith Stein typischen Lebensvollzug des Verlierens um zu gewinnen ergibt es sich, daß sie im Alter von 14 Jahren ihren jüdischen Glauben verliert und auf den Weg des Unglaubens einbiegt, um schließlich nach 17 Jahren den christlichen Glauben zu gewinnen.


Ihre jüdischen Wurzeln und ihr Weg zur Bekehrung

Geboren in einer strenggläubigen jüdischen Familie als letztes von elf Geschwistern, verlor sie mit knapp zwei Jahren ihren Vater. Ihre Mutter, eine starke und energische Frau, übernahm die Erziehung ihrer Kinder und das von ihrem Mann gegründete Holzgeschäft. Edith bewies von Anfang an eine große intellektuelle Begabung. 1911 immatrikulierte sie sich an der Universität Breslau und belegte Germanistik, Geschichte und Psychologie. Um die Vorlesungen des berühmten Philosophen Edmund Husserl, des Hauptvertreters der Phänomenologie, hören zu können, zieht sie 1913 nach Göttingen und 1916 nach Freiburg um, wo sie mit summa cum laude zum Doktor der Philosophie promoviert und Husserls Assistentin wird.

Schon bevor Edith nach Göttingen kam, betrachtete sie sich als ungläubig. Ihre vorwiegend legalistische und sich jeglicher Offenheit auf eine größere Fülle verschließende religiöse Erziehung sowie eine sich auf den nachkantischen Idealismus gründende Schulausbildung mündeten in den Verlust ihres jüdischen Glaubens. Der philosophische Idealismus stellte in der Tat die Dinge und Fakten, die den Gegenstand des Glaubens bilden, in gewisser Weise als unmöglich hin, so daß Edith nichts annahm, was nicht bewiesen werden konnte, und sei es der Glaube ihrer Väter. Sie konzentrierte ihre ganze Kraft auf die philosophische Reflexion, bis sie durch sie und durch das Zeugnis anderer Menschen Christus begegnete. Im ersten Augenblick, als ihr Unglaube ins Wanken kam, drängte es sie noch nicht zur Konversion zum Christentum und noch weniger zur Rückkehr zum jüdischen Glauben ihrer Kindheit, vielmehr vollzog sich ein langsamer Reifungsprozeß, der allerdings eine Garantie für ihre persönliche Begegnung mit Christus war.

Bei ihrer Suche nach dem Sinn des menschlichen Lebens und dem Grund des Menschseins ist die Begegnung mit Max Scheler und Edmund Husserl entscheidend gewesen. Sie halfen ihr, sich dem Bereich der „Phänomene" zu öffnen, vor denen es ihr nun schon nicht mehr möglich war, wie sie erzählt, die Augen zu verschließen. „Nicht umsonst wurde uns beständig eingeschärft, daß wir alle Dinge vorurteilsfrei ins Auge fassen, alle 'Scheuklappen' abwerfen sollten".(18) Die phänomenologische Methode nahm sie gleichsam an der Hand und führte sie, durch die Erfahrung der Endlichkeit des menschlichen Seins hindurch, nach und nach zu den Werten des Glaubens, so daß sich ihr das ewige Sein erschloß.


Vereint mit ihrem Volk

11. Die Konversion zum Christentum brachte Edith Stein zu einer Wiederentdeckung ihrer jüdischen Wurzeln und ihrer Zugehörigkeit zum Volk Israel. Außer daß sich ihre familiären Bande wieder verstärkten, nahm sie in ihrem Leben als Christin auch immer mehr die Überzeugung mit auf, daß sie dazu berufen sei, ihre Leiden und ihr Leben auch für ihr Volk aufzuopfern.

Das war kein leichter Weg. Sie mußte mit dem Schmerz fertig werden, den die Nachricht von ihrer Konversion ihrer Mutter zufügen würde, die fest im jüdischen Glauben verwurzelt war, ja sie fürchtete sogar, von ihrer Familie verstoßen zu werden. Ihre Mutter konnte es jedenfalls nicht unterlassen, sie ihre Verwundung über diese Veränderung spüren zu lassen. Ebenso verhielten sich auch ihre Geschwister, wiewohl sie schließlich eine in einer langsamen und bewußten Suche nach der Wahrheit getroffene Entscheidung respektieren mußten. So bemühte sich Edith, ihrer Mutter nahe zu sein und blieb deshalb mehrere Monate in Breslau. Dabei begleitete sie ihre Mutter in die Synagoge und hielt sich am Versöhnungstag mit ihr sogar an das strenge Fasten. Andererseits war diese von der Art und Weise, wie ihr Tochter zu beten pflegte, tief beeindruckt.

Die Liebe zu ihrem Volk und das Bewußtsein, vom Herrn eine Sendung erhalten zu haben, wuchsen, als sich die Verfolgung der Juden verschärfte. Sie spürte, daß ihre Zugehörigkeit zum auserwählten Volk sie nicht nur geistlich, sondern auch blutsmäßig mit Christus verband, und wurde sich bewußt, daß das Schicksal ihres verfolgten Volkes ihr eigenes war. So unternahm sie, was ihr möglich war, und ging sogar so weit, dem Papst zu schreiben und um ein Rundschreiben zum Problem des Antisemitismus zu bitten. Bereits 1933 wurde ihr klar, daß Christi Kreuz auf die Schultern des jüdischen Volkes gelegt würde, auch wenn es das nicht versteht. Es war der Zeitpunkt, als sie dem Herrn ihr Verlangen offenbarte, es im Namen aller anzunehmen, die das nicht so empfinden. Sie war von ihrer Sendung, in ihrem Herzen die Leiden ihres Volkes anzunehmen, um sie Gott als Sühne anzubieten: „Ich vertraue,...daß der Herr mein Leben für alle genommen hat. Ich muß immer wieder an die Königin Esther denken die gerade darum aus ihrem Volk genommen wurde, um für das Volk vor dem König zu stehen. Ich bin eine sehr arme und ohnmächtige kleine Esther, aber der König, der mich erwählt hat, ist unendlich groß und barmherzig".(19)


Eine Brücke für den jüdisch-christlichen Dialog

12. Auf Grund ihres Lebens und ihres Todes hat unsere Schwester Edith Stein die Aufgabe einer Brückenfunktion für den jüdisch-christlichen Dialog. Das Zweite Vatikanische Konzil anerkannte das reiche geistliche Erbe, das Christen und Juden gemeinsam ist und empfahl deshalb beiden Seiten „gegenseitige Kenntnis und Achtung, die vor allem die Frucht biblischer und theologischer Studien sowie des brüderlichen Gesprächs ist".(20)

Das Kreuz Christi, „Zeichen der universalen Liebe Gottes und Quelle aller Gnaden",(21) ist die geistliche Erfahrung gewesen, die Edith Steins Leben als Christin und Karmelitin geprägt hat. Es erfüllte ihr Leben so sehr mit Sinn, daß sie ihrem Namen angefügt hat: Teresia Benedicta vom Kreuz. In seiner Predigt zur Seligsprechung nannte sie Johannes Paul II. „eine Persönlichkeit, die eine dramatische Synthese unseres Jahrhunderts in ihrem reichen Leben vereint. Die Synthese einer Geschichte voller tiefer Wunden, die noch immer schmerzen, für deren Heilung sich aber verantwortungsbewußte Männer und Frauen bis in unsere Tage immer wieder einsetzen...Sie war eine Frau des Geistes und der Wissenschaft, die in der Kreuzeswissenschaft den Gipfel aller Weisheit erkannte, als große Tochter des jüdischen Volkes und gläubige Christin inmitten von Millionen unschuldig gemarterter Mitmenschen".(22)

Genau diese Art zu leben und das Kreuz zu umfangen ist es, die Edith Stein für die Brüder und Schwestern ihres Blutes zu einer Gesprächspartnerin macht, da sie ihnen zeigt, daß es die Liebe und die Hoffnung sind, die das Leid im Licht des Glaubensgeheimnisses an die Auferstehung Christi in seinem Tod für alle mit Sinn erfüllen.


III

EDITH STEIN - EINE FRAU IN DER NACHFOLGE JESU



13. Die Konversion Edith Steins ist zutiefst mit der Erfahrung des Kreuzes verbunden. Ihre Begegnung mit Christus nimmt mit den Kreuz ihren Anfang, auch wenn sie sich dann auf sein ganzes Mysterium hin ausrichtet, so daß sie sagen kann, „daß Christus der Mittelpunkt meines Lebens ist".(23) Ihre christologischen Reflexionen, die in verschiedenen Schriften ihren Niederschlag fanden, sind immer von einer geistlichen Erfahrung abgedeckt, die sie mit Sinn erfüllt.

Die Entdeckung der Person Jesu setzt eine existentielle Erfahrung voraus, die die Sicht der Dinge, Menschen und Ereignisse völlig auf den Kopf stellt. Er ist die WAHRHEIT und von dieser Perspektive aus vollzog sich Ediths Annäherung an Christus, in dem sie den WEG und das LEBEN entdeckt, und in dessen Arme sie sich fallen läßt, um ihm durch das Tragen des alltäglichen Kreuzes in der Hingabe an den Willen des Vaters nachzufolgen.


Jesus durch die Weiterführung seines Werkes nachfolgen

14. Das Wesen des Lebens als Christ ist die Nachfolge Jesu. Das bedeutet eine Erneuerung unserer Jesuserfahrung im Hinblick auf ihre Beziehungen mit Gott, den Mitmenschen und der Welt; mit anderen Worten, eine vertrauensvolle Hingabe an den Vater, eine geschwisterliche Gemeinschaft mit den Mitmenschen und die Fähigkeit, uns mit Gott und unseren Schwestern und Brüdern für die Umwandlung der Schöpfung einzusetzen und einander daran Anteil zu geben. Daraus wiederum ergibt sich die Verpflichtung, sich dafür einzusetzen, wofür sich Jesus einsetzte, und bereit zu sein, das durchzumachen, was er durchmachte: Unverständnis, Verfolgung, Tod und Auferstehung. Edith Stein hat all diese Aspekte der Nachfolge Jesu durchlebt und uns in ihren Schriften mitgeteilt, was sie durch ihre eigene Erfahrung zu vertiefen vermochte.

Edith lebte vor allem eine Haltung Sich-Überlassens und des Vertrauens zum Vater. Auf dem Weg ihrer Jesusnachfolge hielt sie ihre Beziehung mit dem Abba auch noch inmitten von Verdemütigung, Leid und Kreuzesverlassenheit aufrecht und lebte seine Gegenwart und seine Liebe, die sie in der dunklen der Nacht der Prüfung umfangen hielten: „Ich weiß mich gehalten und habe darin Ruhe und Sicherheit - nicht die selbstgewisse Sicherheit des Mannes, der in eigener Kraft auf festem Boden steht, aber die süße und selige Sicherheit des Kindes, das von einem starken Arm getragen wird - eine, sachlich betrachtet, nicht weniger vernünftige Sicherheit. Oder wäre das Kind 'vernünftig', das beständig in der Angst lebte, die Mutter könnte es es fallen lassen"?(24) Diese Gewißheit der Liebe eines Gottes, der Vater ist, brachte sie dazu, Jesus in der Erfüllung seines Willens auch mit Vertrauen und Hingabe nachzuahmen: „Gotteskind sein heißt an Gottes Hand gehen, Gottes Willen, nicht den eigenen Willen tun, alle Sorgen und alle Hoffnung in Gottes Hand legen, nicht mehr selbst um sich und seine Zukunft sorgen. Darauf beruhen die Freiheit und die Fröhlichkeit des Gotteskindes".(25)

In der Nachfolge Jesu konnte es nicht ausbleiben, daß ihr auch die Verpflichtungen der Nächstenliebe aufgingen: „Wenn Gott in uns ist und wenn er die Liebe ist, so kann es nicht anders sein, als daß wir die Brüder lieben. Darum ist unsere Menschenliebe das Maß unserer Gottesliebe".(26)

Anfangs, gleich nach ihrer Konversion, glaubte sie, daß sie alles aufgeben müsse, um sich ausschließlich Gott hinzugeben und alle anderen Tätigkeiten auf Seiten zu lassen. Doch mit Hilfe ihrer geistlichen Begleiter lernte sie dazu und verstand, daß die Nachfolge Jesu sie dazu verpflichtete, am Kommen des Reiches mitzuarbeiten. In einem Brief von 1928 teilt sie uns diese Meinungsänderung mit, die sie dazu führte, daß sie den apostolischen Einsatz als einen Teil der Forderungen des Evangeliums akzeptierte: „In der Zeit unmittelbar vor und noch eine ganze Weile nach meiner Konversion habe ich nämlich gemeint, ein religiöses Leben führen heiße alles Irdisches aufgeben und nur im Gedanken an göttliche Dinge leben. Allmählich habe ich aber einsehen gelernt, daß in dieser Welt anderes von uns verlangt wird und daß selbst im beschaulichsten Leben die Verbindung mit der Welt nicht durchschnitten werden darf; ich glaube sogar: je tiefer jemand in Gott hineingezogen wird, desto mehr muß er auch in diesem Sinn 'aus sich herausgehen', d. h. in die Welt hinein, um das göttliche Leben in sie hineinzutragen."(27)


Christus auf dem Kreuzweg begleiten

15. Ein Kennzeichen dieser Nachfolge Jesu, das in Edith Steins Christuserfahrung besonders akzentuiert ist, war zweifellos die Tatsache, daß sich Kreuz und Leid als eine Folge aus dieser Nachfolge auch tatsächlich einstellten. Sie hatte von Anfang an „Christus, den Armen, Erniedrigten, Gekreuzigten, am Kreuz selbst vom göttlichen Vater Verlassenen vor Augen".(28) Es konnte auch nicht anders sein, da Christus sein Leben hingab, um der Menschheit die Tore des ewigen Lebens zu öffnen. Deshalb muß man mit Christus sterben und mit ihm auferstehen: „Den lebenslänglichen Tod des Leidens und der täglichen Selbstverleugnung, gegebenenfalls auch den blutigen Tod des Glaubenszeugen für die Botschaft Christi".(29)

Diese Erfahrung des Kreuzes im alltäglichen Leben verhalf ihr dazu, allmählich die „Kreuzeswissenschaft" zu erwerben und ihr letztes theologisches Werk mit diesem Titel zu schreiben, das allerdings unvollendet blieb. Sie vollendete es, indem sie das Kreuz des Martyriums nicht in der Theorie, sondern in gelebter Wahrheit auf sich nahm. Darauf vorbereitet war sie durch die Kreuze, die die armselige und begrenzte Existenz des Menschen mit ihren Höhen und Tiefen, ihren Verzichten, der Annahme von Krankheit, Trockenheit, Eintönigkeit, existentieller Leere, Zusammenleben, Prüfungen und Versuchungen mit sich bringt. „Das Kreuz ist das Sinnbild all dessen, was schwer und drückend ist und der Natur so zuwider, daß es wie ein Gang zum Tode ist, wenn man es auf sich nimmt. Und diese Bürde soll der Jünger Jesu täglich auf sich nehmen".(30)

Den Sinn für das Kreuz entdeckt Edith in der Liebe und der zusammen mit Christus erbrachten Sühne. Er starb am Kreuz aus Liebe, und deshalb wird diese Wirklichkeit, die für die Juden ein Ärgernis, für die Griechen eine Torheit ist (vgl. 1. Kor 1,23), zum Zeichen der Liebe Gottes zu den Menschen. Von daher kommt die Kraft, das Gebot der Nächstenliebe bis in seine letzten Konsequenzen hinein zu leben.(31) Das, was unseren Kreuzen und Leiden Wert gibt, ist, sie gemeinsam mit dem gekreuzigten Christus anzunehmen, der uns durch sein Leiden und Kreuz zur Herrlichkeit der Auferstehung führt.(32)

16. Das in Solidarität mit allen, die leiden, gelebte Kreuz Christi ist auch ein Weg, um mit der Hoffnung auf das Leben und die Auferstehung an den Freuden und Hoffnungen, der Trauer und den Ängsten der Menschen teilzunehmen. Mit Christus zu leiden bedeutet, in Gemeinschaft mit all denen zu leiden, die auf dem steilen und beschwerlichen Lebensweg leiden, um ihre Leiden zu lindern und ihnen die sichere Hoffnung auf den endgültigen Triumph des Guten und der Liebe zu geben: „Jeder, der in der Folge der Zeiten ein schweres Schicksal im Gedanken an den leidenden Heiland trug oder freiwillige Sühneleistungen auf sich nahm, hat damit etwas von der gewaltigen Schuldenlast der Menschheit getilgt und dem Herrn seine Last tragen helfen".(33)

In Edith Sein haben wir ein Vorbild für die Ernsthaftigkeit der Nachfolge Jesu, indem wir die Kreuze des Lebens annehmen: das Kreuz unserer menschlichen Begrenztheit, das Kreuz des Kampfes gegen das Leid, das Kreuz der Solidarität mit denen, die leiden, das Kreuz des Einsatzes für eine Welt in Gerechtigkeit und Frieden. Ihr Leben mutet wie eine Zusammenfassung der Erfahrung des hl. Paulus an, nämlich alles zu verlieren, um Jesus zu gewinnen, und im Vergleich mit ihm alles als Unrat zu betrachten und das Kreuz Christi als einzigen Weg zum Heil zu verkünden: „Denn das Wort vom Kreuz ist denen, die verlorengehen, Torheit; uns aber, die gerettet werden, ist es Gottes Kraft" (1 Kor 1,18), und „was mir damals ein Gewinn war, das habe ich um Christi willen als Verlust erkannt. Ja noch mehr: ich sehe alles als Verlust an, weil die Erkenntnis Jesu Christi, meines Herrn, alles übertrifft. Seinetwegen habe ich alles aufgegeben und halte es für Unrat, um Christus zu gewinnen und in ihm zu sein" (Phil 3,7f.).


IV

EDITH STEIN - TOCHTER TERESAS VON JESUS UND JOHANNES' VOM KREUZ


17. Seit ihrer Konversion dachte Edith an die Möglichkeit, sich im Karmel Christus zu weihen. Aus Gehorsam gegenüber ihren Beichtvätern schob sie ihren Eintritt in ein Kloster Teresas hinaus, da sie ihr die Bedeutung vor Augen hielten, die ihre Lehrtätigkeit hatte. Erst nach elf Jahren erkannte sie nach einer im Gebet errungen Entscheidung mit aller Klarheit, daß nun der erwartete Augenblick gekommen sei, um sich Gott in einem kontemplativen Leben im Karmel zu weihen. Sie lebte aus der tiefen Überzeugung, daß ihr ganzes Leben bis in die letzten Ausfaltungen hinein einem Plan Gottes entsprach, dessen vollständige Bedeutung nur ihm allein bekannt war(34), von dem sich aber nun durch menschliche Vermittlungen ein Teil offenbarte: „Der Umsturz war mir ein Zeichen des Himmels, daß ich jetzt den Weg gehen dürfte, den ich schon lange als den meinen angesehen hatte...Ich bin in das Kloster der Karmelitinnen eingetreten und damit eine Tochter der hl. Teresia geworden, die mich einst zur Konversion geführt hat".(35) Es war der 14. Oktober 1933, als Edith Stein in den Kölner Karmel eingetreten ist, der damals 21 Schwestern zählte.


Eine tiefgreifende Lebensveränderung: verlieren um zu gewinnen

18. Für Edith, die damals 42 Jahre alt war, änderte sich ihr Leben schlagartig. Hinter sich ließ sie eine Welt mit akademischen und intellektuellen Tätigkeiten, großen Freundschaften und ihre Familie, um in die kleine Welt eines kontemplativen Klosters mit all seinen notwendigerweise gegebenen Begrenztheiten einzutreten. Sie mußte sich einer Welt mit ihren Riten, Gebräuchen und Zeremonien öffnen, die als Erbe aus der Vergangenheit das Leben der Schwestern oft sehr kompliziert machten. Obwohl im Kölner Karmel ein beachtliches kulturelles Niveau war, so war doch das von ihr in den langen Jahren des Studiums und Unterrichtens erworbene viel höher. Es bedeutete für Edith Sein eine große Anstrengung, um diesen radikalen Umbruch in ihrem Leben zu verkraften: von einer persönlichen Planung des Lebens zur Tagesordnung einer Gemeinschaft, deren Kennzeichen die Regelobservanz war; vom Katheder zur Handarbeit; von der Konzentration auf das Wesentlich hin zur Notwendigkeit, sich um Kleinigkeiten zu kümmern.

In ihren Briefen und anderen Schriften teilt sie uns mit, was dieser neue Lebensrahmen mit seinen Aktivitäten für sie bedeutete. Durch ihr Bemühen, sich anzupassen und es in Kauf zu nehmen, daß sie viele wertvolle Dinge verlor, gewann sie den Reichtum eines Lebens, das ganz auf das Gebet und die in Schweigen und Einsamkeit einer für das Reich Gottes betenden Kommunität gemachte Gotteserfahrung ausgerichtet ist: „Unsere Tagesordnung sichert uns Stunden einsamer Zwiesprache mit dem Herrn, und sie sind es, auf die sich unser Leben aufbaut...Was Gott in den Stunden des inneren Gebets in der Seele wirkt, das entzieht sich jedem menschlichen Blick. Es ist Gnade um Gnade. Und alle anderen Stunden des Lebens sind der Dank dafür".(36)

19. Der Provinzial der Unbeschuhten Karmeliten in Deutschland, P. Theodor Rauch, war am Tag der Einkleidung Edith Steins am 15. April 1934 auch anwesend. Gleich im Anschluß an diese Feier hielt er im Kloster Pastoralvisitation und ordnete an, daß sich Schwester Teresia Benedicta vom Kreuz (das ist der Name, den sie sich als Karmelitin ausgesucht hatte), auch weiterhin der wissenschaftlichen Arbeit widmen solle, soweit ihre Verpflichtungen als Karmelitin das zuließen. So kam es, daß der Herr sie zur Wiederaufnahme ihrer philosophischen Arbeiten und zur Abfassung vieler anderer Studien und Schriften führte, sowohl in Köln als auch später in Echt. Sie überarbeitete und schloß das in diesen Tagen veröffentlichte Buch Akt und Potenz ab(37) und brachte auch ihr Hauptwerk Endliches und ewiges Sein zum Abschluß. Später, in Echt, verfaßte sie ihr unvollendet gebliebenes Werk Kreuzeswissenschaft.

Diese Art von Arbeit, die eine gewisse Ausnahme bildete, verursachte ihr in der Kommunität manches Problem, was bedeutete, daß sie sich doppelt anstrengen mußte, um dem Wesen ihres kontemplativen Lebens auch in den Kleinigkeiten des klösterlichen Alltags treu zu bleiben. Sie, die man als eine moderne Frau bezeichnen könnte, und die über einen viel weiteren Horizont verfügte es der einer kleinen Gruppe von Klosterfrauen ist, die im begrenzten Raum einer Klausur lebten, unterließ jedoch nichts, um gegenüber den übernommenen Verpflichtungen treu zu sein, auch wenn das für sie ein großes Opfer bedeutete. Sie schreibt dazu: „Es gibt für die Karmelitin in ihren durchschnittlichen Lebensbedingungen keine andere Möglichkeit, Gottes Liebe zu vergelten, als daß sie ihre täglichen Pflichten bis ins kleinste treu erfüllt; all die kleinen Opfer, die eine bis in alle Einzelheiten ausgebaute Tages- und Lebensordnung von einem lebhaften Geist fordert, Tag um Tag und Jahr um Jahr freudig bringt; alle Überwindungen, die das nahe Zusammenleben mit andersgearteten Menschen beständig verlangt, mit dem Lächeln der Liebe leistet; keine Gelegenheit, anderen in Liebe zu dienen, vorbeigehen läßt. Dazu kommt schließlich, was der Herr der einzelnen Seele an persönlichen Opfern auferlegen mag".(38) Einige Monate vor ihrer endgültigen Profeß schrieb sie an eine Freundin: „Ich darf mich auf die Profeß im April freuen. Es ist aber gut, daß man dann noch nicht 'fertig' zu sein braucht, denn ich habe das Gefühl, daß das eigentliche Noviziat erst vor kurzem begonnen hat, seitdem das Eingewöhnen in die äußeren Verhältnisse - Zeremonien, Bräuche und dergleichen - nicht mehr so viel Kraft verbraucht".(39)

Als Schwester Teresia Benedicta vom Kreuz am 31. Dezember 1938 in das vom Kölner Karmel gegründete Kloster in Echt in Holland mit seinen damals 14 Chor- und vier sog. Laienschwestern übersiedelte, bedeutete das für sie eine erneute Anstrengung um Anpassung an das Gemeinschaftsleben. Auch hier verstand sie es, ihre intellektuelle Tätigkeit, die zum großen Teil der Ausbildung ihrer Mitschwestern galt, mit den Gemeinschaftsübungen eines Klausurkloster in Einklang zu bringen. In Echt vollbringt sie ihren Akt der Aufopferung für den Frieden: „Liebe Mutter, bitte, erlauben E[uer] E[hrwürden] mir, mich dem Herzen Jesu als Sühnopfer für den wahren Frieden anzubieten...Ich weiß, daß ich ein Nichts bin, aber Jesus will es, und Er wird gewiß in diesen Tagen noch viele andere rufen".(40) Von Echt wird sie am 2. August 1942 verschleppt und stirbt sieben Tage später am 9. August in einer Gaskammer in Auschwitz-Birkenau.


Tochter und Schülerin Teresas von Jesus und Johannes' vom Kreuz

20. In Teresa von Jesus fand Edith Stein die gleiche Liebe zur Wahrheit, von der auch sie beseelt war; von ihr lernte sie, das Beten vor allem als Freundschaft und Zwiegespräch mit Gott in seiner christologischen und apostolischen Dimension zu verstehen. So bildeten die Stunden des Gebetes für Edith den Mittelpunkt ihres Lebens als Karmelitin. Alles, was sie tun oder bewirken kann, muß von hier seinen Ausgang nehmen: „Hier findet sie Ruhe, Klarheit und Frieden, hier lösen sich alle Fragen und Zweifel, hier erkennt sie sich selbst und was Gott von ihr will, hier kann sie ihre Anliegen vortragen und Gnadenschätze empfangen, von denen sie freigebig an andere austeilen kann".(41)

Edith Stein vertieft die christozentrische Dimension des teresianischen Betens insbesondere dadurch, daß sie Jesu Gebetsleben als Schlüssel zum Verständnis des Gebets der Kirche darstellt. Er lehrt uns ein Preisgebet auf den Vater und das Beten als Liebeshingabe zu leben. Christus eint sich uns zur Erlösung der Welt an, indem er uns Anteil an seinem Kreuz gibt. Aus dieser Gemeinschaft mit dem Leiden, dem Tod und der Auferstehung Christi strömt die apostolische Kraft des kontemplativen Betens: „Es ist ein Grundgedanke alles Ordenslebens, vor allem aber des Karmellebens, durch freiwilliges und freudiges Leiden für die Sünder einzutreten und an der Erlösung der Menschheit mitzuarbeiten".(42)

Der Einfluß des hl. Johannes vom Kreuz tritt im Leben und in einigen Schriften Edith Steins auch deutlich zu Tage. Sie war von der Erfahrung, die der Heilige im Kerker von Toledo machte, betroffen und interpretiert von ihr aus die „Nächte" des Johannes vom Kreuz als Verlassenheit: Gott läßt den Menschen seine Verlassenheit verspüren, damit sich ihm dieser in der Dunkelheit des Glaubens als dem einzigen Weg zur Vereinigung mit dem unbegreifbaren Gott überlasse.(43)

Edith Stein benutzt auch das Bild von der „dunklen Nacht", um den historischen Kontext ihrer Zeit zu interpretieren. Was heute gewöhnlich strukturelle Sünde heißt, nennt sie „Nacht der Sünde". Damit bringt sie die Dunkelheit einer durch den Weltkrieg mit all seinen Folgen gekennzeichneten Zeit zum Ausdruck. Auch hier gilt es, sich Gott zu überlassen und zuzulassen, daß Gott ein unbegreiflicher Gott sei, und blind auf seine Güte und Barmherzigkeit zu vertrauen, die uns inmitten der Dunkelheit umgibt: „Je mehr eine Zeit in die Nacht der Sünde und Gottesferne versunken ist, desto mehr bedarf es der gottverbundenen Seelen. Gott läßt es auch daran nicht fehlen. Aus der dunkelsten Nacht treten die größten Propheten- und Heiligengestalten hervor. Aber zum großen Teil bleibt der gestaltende Strom des mystischen Lebens unsichtbar".(44)


Mit der Hand an der Hand des Herrn

21. Am Beginn seiner Homilie bei der Seligsprechung Edith Steins in Köln 1987 nannte Johannes Paul II. sie „eine Tochter des jüdischen Volkes, reich an Weisheit und Tapferkeit. Aufgewachsen in der strengen Schule der Traditionen Israel, ausgezeichnet durch ein Leben der Tugend und Entsagung im Orden, bewies sie eine heldenmütige Gesinnung auf dem Weg ins Vernichtungslager".(45) Diese Worte bieten eine Zusammenfassung des leidenschaftlichen Lebens einer Frau unserer Zeit, einer unermüdlichen Wahrheitssucherin, die mehrmals zu verlieren verstand, um im Sinn des Evangeliums zu gewinnen: Sie verlor die Überzeugungen eines ungläubigen Menschen, um das Licht des Glaubens zu gewinnen; sie verlor ihre Familie und ihr Volk, um ihnen in der Nachfolge Jesu zu begegnen, indem sie auch für sie ihr Leben hingab; in ihrem Leben als kontemplative Karmelitin gelangte sie an das Ziel dieses Weges des Evangeliums, indem sie sich, geleitet von der evangelischen Logik des Verlierens um zu gewinnen, auf den Einzigen und Absoluten ausrichtete. Am Ende ihres Lebens vermochte sie aus Jesu Anweisung Wirklichkeit werden zu lassen: „Wer sein Leben retten will, wird es verlieren; wer aber sein Leben um meinetwillen und um des Evangeliums willen verliert, wird es retten" (Mk 8,35).

Während ihres langen Weges in den Fußspuren Jesu, der Weg, Wahrheit und Leben ist, lebte sie in Hingabe und Vertrauen auf den Herrn, indem sie, wie sie sagte, ihre Hand in die seine legte, um sich auf den schwierigen und unbekannten Pfaden ihres Lebens und der Geschichte von seiner Liebe leiten zu lassen. Erleuchtet von der Wissenschaft des Kreuzes, die sie zur Vereinigung mit Gott führte, trug sie in Freiheit und Verantwortung nach Kräften dazu bei: „So gehören eigene Seinsvollendung, Vereinigung mit Gott und Wirken für die Vereinigung anderer mit Gott und ihre Seinsvollendung unlöslich zusammen. Der Zugang zu all dem aber ist das Kreuz. Und die Predigt vom Kreuz wäre eitel, wenn sie nicht Ausdruck eines Lebens in Vereinigung mit dem Gekreuzigten wäre".(46)

Männer und Frauen von heute, die in einer Welt voller ideologischer und religiöser Gegensätze mit einer großen Gottessehnsucht verzweifelt nach der Wahrheit suchen, können in der Erfahrung und den Lehren von Teresia Benedicta vom Kreuz Licht und Weisung finden; sie ist eine Frau unserer Zeit, die voll Unruhe und Hunger nach der Wahrheit in der Nacht unseres dramatischen Jahrhunderts ihren Weg gegangen ist, bis sie endlich Christus und mit ihm den Sinn ihres Lebens und den lange ersehnten Frieden gefunden hat.


Rom, den 9. August 1998

Gedenktag der sel. Teresia Benedicta vom Kreuz



Fr. Jospeh Chalmers O.Carm., Generalprior

Fr. Camilo Maccise OCD, Generaloberer

 

Anmerkungen

1.

1 Vita consecrata 58. Vgl. 57.

2.

2 Brief vom 23.3.1938, in: Edith Stein Werke (abgekürzt mit ESW) IX, Freiburg, 1977, S. 102.

3.

3 Edith Stein, Kreuzeswissenschaft. Studie über Joannes a Cruce, in: ESW I, 145.

4.

4 Diese Worte legt ihre erste Biographin Teresia Renata de Spiritu Sancto Posselt Edith Stein in den Mund. (Edith Stein. Lebensbild einer Philosophin und Karmelitin, Nürnberg, 1948, 28.)

5.

5 Neue Bücher über die hl. Teresia von Jesus, in: ESW XII, 191.

6.

6 Positio 191.

7.

7 Diese Worte legt ihre erste Biographin Teresia Renata de Spiritu Sancto Posselt Edith Stein in den Mund. (Edith Stein. Lebensbild einer Philosophin und Karmelitin, Nürnberg, 71954, 68).

8.

8 Brief von Dezember 1941, in: ESW IX, 167.

9.

9 Kreuzeswissenschaft, in: ESW I, 165.

10.

10 Brief 12.2.1928, in: ESW VIII, 54.

11.

11 Beruf des Mannes und der Frau nach Natur- und Gnadenordnung, in: ESW V, 28.

12.

12 Die Bestimmung der Frau, in: ESW XII, 116

13.

13 Beruf des Mannes und der Frau nach Natur- und Gnadenordnung, in: ESW V, 23.

14.

14 Das Ethos der Frauenberufe, in: ESW V, 11.

15.

15 Beruf des Mannes und der Frau nach Natur- und Gnadenordnung, in: ESW V, 29.

16.

16 Vgl. aaO.

17.

17 Vgl. Aufgaben der katholischen Akademikerinnen der Schweiz, in: ESW V, 225.

18.

18 Aus dem Leben einer jüdischen Familie, in: ESW VII, 230.

19.

19 Brief 31.10.1938, in: ESW IX, 121.

20.

20 Nostra aetate 4.

21.

21 AaO.

22.

22 Predigt zur Seligsprechung in Köln am 1. Mai 1987, in: Verlautbarungen des Apostolischen Stuhles Nr. 77, Bonn, 25-32, Nr. 9.8.

23.

23 Brief 13.12.1925, in: ESW XIV, 168.

24.

24 Endliches und ewiges Sein, in ESW II, 57.

25.

25 Das Weihnachtsgeheimnis, in: ESW XII, 202.

26.

26 AaO. 201.

27.

27 Brief 12.2.1928, in: ESW VIII, 54.

28.

28 Kreuzeswissenschaft, in: ESW I, 106f.

29.

29 AaO. 12.

30.

30 AaO. 11.

31.

31 Vgl. aaO. 264.

32.

32 Vgl. aaO. 165.

33.

33 Kreuzesliebe, in: ESW XI, 122.

34.

34 Vgl. Endliches und ewiges Sein, in: ESW II, 109f.

35.

35 Brief 17.10.1933, in ESW IX, 189.

36.

36 Über Geschichte und Geist des Karmel, in: ESW XI, 8.

37.

37 ESW 18 (Freiburg 1998). Dieses Werk war ursprünglich als Habilitationsschrift gedacht.

38.

38 Über Geschichte und Geist des Karmel, in: ESW XI, 8f.

39.

39 Brief 15.12.1934, in: ESW IX, 26.

40.

40 Brief 26.3.1939, in: ESW IX, 133.

41.

41 Eine Meisterin der Erziehungs- und Bildungsarbeit: Teresia von Jesus, in: ESW XII, 180.

42.

42 Brief 2. Weihnachtsfeiertag 1932, in: ESW VIII, 125.

43.

43 Vgl. Kreuzeswissenschaft, in: ESW I, 107.

44.

44 V erborgenes Leben und Epiphanie, in: ESW XI, 145.

45.

45 Predigt zur Seligsprechung in Köln am 1. Mai 1987, in: Verlautbarungen des Apostolischen Stuhles Nr. 77, Bonn, 25-32, Nr. 1.

46.

46 Kreuzeswissenschaft, in: ESW I, 252f.