Der Geist der Regel
Anastasio Kardinal Ballestrero

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Kirchenschiff in Richtung Ost-West gesehen.

Die Karmelregel ist eine Wirklichkeit voll Leben. In der Nüchternheit der Worte läßt sie die innere Dynamik zur Entfaltung kommen, die ihren Geist prägt. Der Text beeindruckt sehr stark wegen seiner ungeschminkten und wesentlichen Aussagen. Es ist hier schon hingewiesen auf jene totale Entäußerung, die später der heilige Johannes vom Kreuz in seinen Aphorismen vom "Nichts" zusammenfassend schildern wird und die aus dem inneren Reichtum eines Lebens wächst, das intensiv damit beschäftigt ist, Gott allein zu lieben.

Abgesehen von ihrer Kürze, besteht die Regel zu fast zwei Dritteln aus Texten der Heilige Schrift. Gerade deswegen sind nicht "disziplinäre" Anweisungen ihr Charakteristikum, sie ist vielmehr unmittelbar ausgerichtet auf das Ziel, nämlich aus dem Ordensmann einen Heiligen zu formen.

Wegen ihres zeitlosen Charakters, wegen fehlender zeit- und ortsgebundener Einzelheiten ist sie geeignet, "die Seele hinzuführen zu einer Haltung vollkommener Verfügbarkeit Gott gegenüber, indem sie ihr erlaubt, in Einfachheit und Schweigen sich vollständig einzulassen auf das Tun und Wirken Gottes" (François de Sainte Marie).

Charakteristischer Geist

Als Albert, der Patriarch von Jerusalem, sich anschickt, den Text der Karmelregel niederzuschreiben, betont er ausdrücklich, daß er ein Gesetz geben möchte, das der Lebensform der Religiosen entspricht, die ihn darum gebeten haben: "eurem Vorhaben entsprechend" (iuxta propositum vestrum).

Obwohl sie von einem Regularkleriker - denn das war Albert Avogadro - verfaßt worden ist, unterscheidet sich diese Regel durch grundlegende Verschiedenheiten und durch eine entschiedene Unabhängigkeit von anderen. Ja, man kann ohne Zweifel behaupten, daß sie die Inkarnation eines spezifischen und charakteristischen Geistes darstellt: nämlich jenes Geistes, aus dem die ersten Eremiten auf dem Karmel lebten. Dieser geistlichen Prägung der Regel verdankt der Karmel seine Jahrhunderte überdauernde Lebenskraft in der Kirche Gottes. Als unumschränkte Eigenart birgt sie zwei harmonisch miteinander verwobene Tendenzen in sich: den monastischen und den zönobitischen Aspekt. Beide fügen sich Schritt für Schritt ineinander, indem sie einander ergänzen.

Eremitischer Geist

Die Regel ist "den Einsiedlern, die um die Quelle des Elija am Berg Karmel wohnen", gewidmet.

Der Gesetzgeber bestimmt eine Lebensordnung und hat dabei vor allem Menschen vor Augen, die in der Einsamkeit leben. Im Prolog legt er den Schwerpunkt vor allem auf die persönliche Verantwortung, die jeder einzelne hat, in der "Nachfolge Jesu Christi" zu leben. Christus ist die Mitte, um die das ganze Leben kreist; ER ist auch derjenige, der allein zum Handeln anregt, der hinter jeder Entscheidung und hinter jeder Verhaltensweise steht und dem der Karmelit "mit reinem Herzen und gutem Gewissen" dienen muß.

Der in persönlicher Verantwortung übernommene eremitische Lebensstil des Karmeliten ist der fundamentale Prüfstein für seine Geisteshaltung. Das die Gemeinschaft als solche prägende Eremitentum des Ordens ist im Lauf der Jahrhunderte gemildert worden - die Regel selbst trägt nach der Änderung durch Innozenz IV. deutlich diese Spuren -, dennoch darf der Geist eremitischer Einsamkeit im Leben des einzelnen Ordensmannes nicht angetastet werden und gehört wesentlich zur Regeltreue.

In ihr kommt die Sorge zum Vorschein, daß die Einsamkeit des einzelnen durch bestimmte Normen geschützt werde: die Brüder sollen in Einöden wohnen oder an anderen Orten, die "für die Beobachtung eurer Ordenssatzung tauglich und geeignet sind". Das Kloster hat seinen Bewacher in der Person des Priors, dessen Zelle sich "nahe beim Eingang der Niederlassung" befinde, "damit er die Besucher als erster empfangen kann". Und im Umkreis des Klosters selbst muß der Religiose von den Brüdern getrennt sein, indem er Tag und Nacht in seiner Zelle oder in deren Nähe bleibt.

In den südlichen Abhang gegrabene Höhle oberhalb der Zelle des Priors.

Dies geschieht, um einen inneren Reichtum zu verteidigen und zu hüten, der aus der Kontemplation entspringt. Und in der Tat, die Vorschrift des Verweilens in der Zelle ist in der literarischen Form des Textes zusammengeschweißt mit der alles belebenden Kernaussage, d. h. mit der Verpflichtung zum Gebet: "Jeder soll in seiner Zelle oder in deren Nähe bleiben, Tag und Nacht das Gesetz des Herrn betrachten und im Gebete wachen, wenn er nicht durch anderweitige Beschäftigungen rechtmäßig in Anspruch genommen wird." Mit der Ausnahme der "rechtmäßigen Beschäftigungen" ist ohne Unterschied auf die Zelle wie auch auf das immerwährende Gebet Bezug genommen. Dadurch kommt zum Ausdruck, daß die beiden Vorschriften nicht voneinander getrennt werden können.

Auch die Verpflichtung, das Schweigen zu beachten, muß als Element betrachtet werden, das zu unserem Einsiedlerleben gehört. In einem so knappen Text - wie ihn die Regel aufweist - finden wir eine Fülle von Bibelzitaten über das Schweigen. Dies macht begreiflich, daß das Schweigen nicht als bloß asketisches Mittel betrachtet werden darf, sondern daß der karmelitanische Eremit sich vom Schweigen nähren muß, denn es ist "Pflege der Gerechtigkeit". Und man kann gut verstehen, daß diese "Gerechtigkeit" nichts anderes ist als die Treue zur eigenen Berufung des Gebetes und der Nächstenliebe.

Zönobitischer Geist

Der vorwiegend innerliche und persönliche Charakter des karmelitanischen Einsiedlerlebens macht es möglich, daß der äußere und gemeinsame Tagesablauf eine zönobitische Struktur erhält. Dieser zönobitische Geist durchzieht ebenso die ganze Regel. Er bietet den Brüdern nicht nur ein gemeinsames Ideal und die Mittel, es zu erreichen, sondern ruft sie zusammen in eine Gemeinschaft, wo die verinnerlichte Bruderliebe - die sich konkret im Gehorsam und im gemeinsamen Leben offenbart - grundlegendes Mittel zur Erreichung der Vollkommenheit ist.

Das Zönobitentum des Karmel ist vor allem geprägt durch den Gehorsam, der das konkrete geistliche Leben um die Autorität des Priors vereint. Er regelt die konkrete Verwirklichung der Einsamkeit, den Ablauf des gemeinsamen Lebens, die Praxis der Armut, die so weit geht, daß der Prior dafür zu sorgen hat, jedem das Notwendige zukommen zu lassen. Ein weiteres wichtiges Element ist - in bestimmten Fällen - die Mitverantwortung aller Brüder bei den Entscheidungen des Oberen. Dies verleiht der Ausübung der Autorität einen weniger absolutistischen Ton und bewirkt, daß die Befehle Hand in Hand gehen mit den Erfordernissen eines herzlichen und auf alle Rücksicht nehmenden Familiengeistes. Dieser Geist muß in der brüderlichen Gemeinschaft immer lebendig bleiben und wird die Wünsche und die Anstrengungen aller in die Bahn eines geordneten und herzlichen Einvernehmens lenken. Der Prior ist ein Vater: so wurde der Ausdruck "Prior" in der gesamten monastischen Tradition verstanden. Die Mahnung für den Prior, demütig zu sein, und für die Brüder, ihm wohlwollend Ehre zu erweisen und sich ihm im Geist des Glaubens zu unterwerfen, macht aus dem Gehorsam ein Band, das den Oberen und die Untergebenen in tiefer, übernatürlicher und herzlicher Weise zusammenhält.

Die äußere Struktur des karmelitanischen Zönobitentums wird gebildet durch die Vorschrift eines gemeinsamen Oratoriums, des gemeinsamen Stundengebetes, von der Mahlzeit im gemeinsamen Refektorium und vom Schuld- oder Dialogkapitel.

Die getreue Feier der Liturgie, die Lesung der Heiligen Schrift, die dem gemeinsamen Mahl eine besondere Weihe geben soll, und der Eifer für das Heil der Seelen werden zu geistlichen Kraftquellen des zönobitischen Lebens. Die Regel plant es nämlich nicht wie das Zusammenleben in einer profanen Gesellschaft, sondern wie eine lebendige Anteilnahme aller am einzigen Ideal, das alle lieben und dem sie nacheifern.

Der Grund, weshalb ein gemeinsames Oratorium errichtet werden soll, ist klar: damit die Mönche zur Feier der Eucharistie zusammenkommen können. Durch dieses Zusammenkommen der verstreut lebenden Einsiedler werden sie eine Einheit und bilden eine sichtbare Gemeinschaft.

In einer Zeit, in der die Eucharistie nicht täglich gefeiert wurde, schreibt die Regel sie "Tag für Tag" vor. Das hat eine tiefe Bedeutung: hier ist der Augenblick und der Ort, wo die Berufung in der brüderlichen Gemeinschaft ihren Höhepunkt erreicht. Dem mit dem Erlösungsopfer verbundenen Akt der Gottesverehrung schließen sich die Brüder an durch ihr "Zusammenkommen", durch die Feier in Gemeinschaft, durch ihren in vollendeter Treue gefestigten Glauben, durch die geistliche Nahrung, die sie in Christus verwandelt, und durch die Liebe und Brüderlichkeit, die sie zusammenschweißt. Die Gemeinschaft empfängt Leben von der Eucharistie, wie die Urkirche vom Brechen des Brotes. Indem die Brüdergemeinschaft vom selben Brot ißt und sich in treuer Beharrlichkeit um denselben Tisch versammelt, gewinnt sie Anteil an der Fülle des Lebens.

Das kontemplative Ideal

"Tag und Nacht im Gesetze des Herrn betrachten und im Gebete wachen", dies ist die wichtigste Beschäftigung der Einsiedler vom Berg Karmel. Die eremitischen Wurzeln der Karmeliten sind hier zu finden. Ihre wesentlichen Aufgaben sind eingebettet in diese geistliche Haltung.

Dieser Text der Regel ist wie die Seele des Ganzen. Würde man diese Worte streichen: der ganze Aufbau fiele zusammen. Darum hat die geistliche Tradition des Ordens stets betont, daß hier der grundlegende Kern des karmelitanischen "Vorhabens" zu sehen ist. (Bild: Blick von außen auf eine zweistöckige Höhle im nördlichen Abhang).

Die nach außen hin streng verpflichtende Vorschrift gewährleistet die Kontinuität des Gebetes, indem sie den Religiosen als spezifische Beschäftigung ihres Lebens das "Werk" der Meditation und des Gebetes zuweist. Dies schafft im Karmel das kontemplative Ideal.

Der Karmelit ist persönlich und vor allem verpflichtet, Gott zu suchen und das Einssein mit Ihm zu pflegen. Die Überlieferung des Ordens fürchtet sich nicht zu behaupten, daß die Berufung zum immerwährenden Gebet eine Berufung zum mystischen Leben ist. Das bezeugt das "Buch der ersten Mönche", in dem ein zweifaches Ziel für den Karmeliten aufgezeigt wird: Gott ein reines Herz anzubieten durch eigene persönliche Anstrengung, und als reines göttliches Geschenk die Kraft seiner Gegenwart und die Süßigkeit Seiner Herrlichkeit im Geist zu erfahren. Das ununterbrochene "Wachen im Gebet" muß sich notgedrungen Ausdruck verschaffen im Streben und in tiefer Sehnsucht, die dem Leben letzte Erfüllung geben, und es verwandeln in einer unaufhörlichen Nachtwache der Liebe.

Das apostolische Ideal

Die konkreten Hinweise auf den apostolischen Geist sind in der Regel spärlich. Ein Punkt jedoch ist ganz ausdrücklich erwähnt: "Über euer geistliches Wohl sollt ihr euch besprechen."

Der ständige Kontakt mit Gott kann den Kontemplativen nicht unempfindlich und gleichgültig machen. Die Glut der Liebe zu Gott muß ins Leben überfließen und wird zum apostolischen Eifer, zur begeisterten Verkündigung des Lebens mit Gott und der Liebe zu Gott. Es handelt sich dabei nicht um eine Schwächung des kontemplativen Ideals, sondern eher um dessen Krönung.

In der Beziehung zwischen Kontemplation und Aktion liegt im Karmel der Schwerpunkt bei der Kontemplation: ohne sie kann der Karmelit kein Apostel sein. Die Werke, die das kontemplative Ideal ins Leben umsetzen, können in der Tat nicht im Gegensatz stehen mit jener Sammlung, die das Feuer der Liebe hütet. Der Karmel weiß nur zu gut, daß "Ein wenig dieser lauteren Liebe ... vor Gott und vor ihr (der Seele) von höherem Wert, ... für die Kirche von größerem Nutzen ist als alle anderen Werke zusammen" (hl. Johannes vom Kreuz).

Auf diese Weise leben die Karmelitinnen - ohne äußere Werke - das apostolische Ideal. Die reine Liebe stellt dann allerdings harte Forderungen und führt senkrecht in einsame Höhen.

Theologale Askese

In den Ermahnungen beschreibt die Regel das Leben als einen Kampf gegen die Sünde. Der Widersacher - der Teufel - ist die Personifizierung des Bösen. Ihm stellt sich eine übermenschliche Kraft gegenüber: die theologalen Tugenden.

Eine heute leider zu sehr in Vergessenheit geratene, fundamentale theologische Überzeugung drängt sich hier auf: Nur Gott selbst kann dem durch die Sünde besiegten Menschen zum Sieg verhelfen. Er kann nur aufstehen, wenn göttliches Leben in ihn einströmt und sich entfalten kann.

Die theologalen Tugenden sind für den Einsiedler wie eine "Waffenrüstung". Der Vergleich ist treffend, denn die theologalen Tugenden sind die großen Reserven, die großen Kräfte, die uns nach und nach ins richtige Verhältnis zur mystischen Erfahrung bringen. Auch der heilige Johannes vom Kreuz spricht vom "Sich verkleiden": Der Weg des Glaubens bewirkt jene Reinigung, die uns von jeder Art rationalistischen Denkens befreit und uns Gott gegenüber gehorsam macht, dem Gott gegenüber, der unser ganzes Leben überflutet.

Auch die Hoffnung ist ein Weg, der neue Horizonte öffnet und uns immer offener macht für das Geschenk Gottes. Sie vermittelt unserer Existenz jene eschatologische Dimension, die alle unsere Tage überstrahlen muß. Die Liebe zu Gott - endlich - schenkt dem Aufschwung der Liebe zum Nächsten die volle Freiheit.

Auf diesem Weg werden uns Mittel an die Hand gegeben: das wohltuende und strenge Schweigen, die heiligen Gedanken, die das Herz stärken und es zu einem reinen Heiligtum des lebendigen Gottes machen. Aber da ist auch die Rede von der Arbeit: wir arbeiten nicht nur, damit der Teufel uns nicht unbeschäftigt antreffe, sondern auch: "Wer nicht arbeiten will, soll auch nicht essen." Es ist unsere Pflicht, zum Unterhalt der Kommunität beizutragen, indem wir auch die Mühe einfacher Hausarbeiten auf uns nehmen.

Wir haben - wenn auch nur kurz - die wichtigsten Punkte der Albertusregel ins Auge gefaßt. Man könnte noch hinweisen auf die Ausgeglichenheit und Innerlichkeit. Es ist die Liebe, die alles ins rechte Lot bringt, indem sie das Herz frei macht und die Verzichte in Einklang bringt mit der Option für die größten, radikalsten und absoluten Werte.

Der Karmel ist in Wahrheit der erhabene Berg, auf dem die Liebe und die Ehre Gottes unaufhörlich alles überstrahlen.

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