Das "Vorhaben" oder die ursprüngliche Inspiration des Karmel
P. Nilo Geagea

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Überblick über den Wadi 'ain es-Siah zum Meer hin. Im Vordergrund (links im Bild) die gesamten Ruinen des ehemaligen Klosters.

Der Heilige Geist, die Seele der Kirche, beschränkt Seine Heil schaffende Tätigkeit nicht auf die einzelnen Glieder des mystischen Leibes, sondern dehnt sie aus auf den gesamten Organismus als Kollektiv, indem Er ihn mit vielfältigen, unterschiedlichen Charismen ausstattet. Alle zusammen ergänzen einander wie Steinchen aus Licht und Liebe zu einem strahlenden Mosaik.

Unter diesen wunderbar und überreich verströmten Charismen nimmt in bezug auf Tiefe und Fruchtbarkeit eines den Ehrenplatz ein. Es ist das karmelitanische Charisma, das Ideal der Vollkommenheit, dem die Kinder des Karmel nacheifern. Es handelt sich um eine ursprüngliche Inspiration, die nach und nach durch das Einbringen einer geistlichen Erfahrung herangereift ist. Diese wurde nicht vom Gründer - als Einzelperson - gemacht und unmittelbar weitergegeben, sondern von den Mitgliedern des Kollektivs gelebt.

Zum Unterschied von anderen Orden kennen die Karmeliten die geschichtliche Person ihres Gründers nicht, d. h. jene Person, die tatsächlich den Impuls für den geschichtlichen Anfang des Instituts gegeben hat. Man kennt nicht seinen Namen und noch viel weniger das ihm eigene Charisma.

Das, was wir als geschichtliche Tatsache wissen, beschränkt sich auf wenige, recht dürftige Notizen. In der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts ließen sich einige fromme Männer aus westlichen Ländern und von verschiedener ethnischer Herkunft auf dem Berg Karmel in der Nähe der Elija-Quelle nieder. Diese Quelle begünstigte - wie sich später herausstellte - die Entwicklung einer ganz bestimmten religiösen Haltung und wurde zum Symbol eines intensiven geistlichen Lebens.

Das erste offiziell beglaubigte Dokument von seiten des Ordens, von dem wir Kenntnis haben und das von den ursprünglichen Plänen der ersten Väter spricht, stammt aus einer für unser Gefühl späten Zeit: etwa ein Jahrhundert nachher - und zwar genau im Jahr 1282 - kommt es auf die Ereignisse zu sprechen. In diesem Jahr wurden nämlich vom Generalkapitel in London die ersten Konstitutionen verfaßt.

Diesen Konstitutionen wurde eine Erklärung vorangestellt, die als "Rubrica prima" bekannt geworden ist und die unseren Vätern ausdrücklich vorschreibt und ihre Absicht kundtut, "in heiliger Buße zu leben". Nun ist dies aber eine mittelalterliche Ausdrucksweise, mit der die Kirche damals den öffentlichen Sündern, den Büßenden und den Wiederversöhnten eine aszetische Maßregel erteilte. Die Bezeichnung ist auf jeden Fall sehr allgemein gehalten, läßt verschiedene Deutungen zu und sagt wenig Bedeutsames über die Lebensweise der ersten Väter aus.

Ein über die damaligen Verhältnisse besser informierter Schriftsteller, Jacques de Vitry, Bischof von Akkon von 1216 - 1228, ergänzt das oben Gesagte mit einem bedeutsamen, ja völlig unerwarteten Hinweis. Er berichtet: "Fromme Pilger haben sich auf dem Berg Karmel neben der Elija-Quelle niedergelassen. Sie führten ein zurückgezogenes Leben und hausten in kleinen, bienenkorbförmigen Zellen, wo sie - gleichsam als Bienen des Herrn - wie Honig die geistliche Süßigkeit der Kontemplation bereiteten. Sie ahmten dabei das Vorbild des heiligen Anachoreten und Propheten Elija nach"; d. h. sie lebten das "elijanische" Ideal.

Später erklären alle Schriftsteller des Ordens einmütig und ohne Einschränkung, daß die ersten Mönche eine "besondere Andacht" zur seligen Jungfrau Maria pflegten. Als es darum ging, ihr erstes Oratorium nach einem bestimmten Heiligen zu benennen, weihten sie es ohne Zögern der Mutter Gottes, indem sie ihr unter anderen den Vorzug gaben und sie zur Kirchenpatronin bestimmten. Als Folge davon ist Maria auch die Patronin des gesamten Ordens: d. h. sie lebten das "marianische" Ideal.

Wenn wir das alles voraussetzen, müssen wir doch sagen, daß die älteste, die echteste und die ergiebigste Quelle die Regel ist. Durch sie ist es uns möglich, genaue und bis ins einzelne gehende Informationen zu erhalten, die uns das Vorhaben und die Lebensweise der ersten Karmeliten beschreiben. Es ist die "Lebensordnung", die ihnen zu Anfang des 13. Jahrhunderts (ca. 1209 - 1214) Albert Avogadro, der Patriarch von Jerusalem, gab.

Das Ideal des Strebens nach Vollkommenheit wurde nicht von Albert vorgeschlagen oder vorgeschrieben, sondern von den Eremiten selbst ausgewählt. Es handelte sich um eine anachoretische Haltung mit kontemplativem Charakter, der eine ausgesprochen vertikal ausgerichtete, d. h. theozentrische Haltung aufwies. Albert respektierte diese Wahl und begnügte sich damit, die Verwirklichung des Vorhabens zu fördern und zu erleichtern.

Vor allem dringt er darauf, daß eine fundamentale Forderung erfüllt werde, nämlich den Christus geschuldeten Gehorsam zu leisten. Er ist der Gebieter dieses Ortes: darum verlangt die Regel, daß der Eremit "in der Nachfolge Christi leben und Ihm treu, mit reinem Herzen und gutem Gewissen dienen müsse". Diese Verpflichtung ist unvermeidlich, unausweichlich und gehört zu jeder beliebigen Institution und zu jeder Form religiösen Lebens, die im Heiligen Land - dem Lehngut Christi, das Er durch das Vergießen Seines Blutes erworben hat - entstanden sind. Übrigens entspricht diese Forderung ganz der Bibel, sowohl was die Substanz, als auch was die Form betrifft.

Es muß außerdem hervorgehoben werden, worin die wichtigste Vorschrift besteht: jene, die für das Vorhaben von besonderem Interesse ist und die zugleich am wirksamsten dazu beiträgt, daß es in die Wirklichkeit umgesetzt werden kann. Es ist die Norm, die die beharrliche und alles andere überragende Beschäftigung des Eremiten betrifft, nämlich: "Jeder soll in seiner Zelle ... bleiben, Tag und Nacht im Gesetze des Herrn betrachten und im Gebete wachen."

Diese Vorschrift ist wie der Schlüsselbegriff und der Hauptstützpunkt der ganzen Lebensnorm. Ohne Zweifel war dies seit jeher die Überzeugung des Ordens. "Ohne diese Vorschrift" - so ist mit Recht Kardinal Anastasio Ballestrero überzeugt - "schwindet die geistliche Bedeutung der Regel, der weise Aufbau des gesamten Textes wird auf den Kopf gestellt, das staunenswerte psychologische Gleichgewicht der einzelnen Elemente und die formgebende, erzieherische Wirkkraft lösen sich in nichts auf."

Dies ist also die erste und wichtigste Aufgabe, eine theologale Aufgabe, die uns direkt mit Gott verbindet. Folgendes ist dazu erforderlich:

Diese Aufgabe wird Tag für Tag gestützt durch die Eucharistie und ständig in die richtigen Bahnen gelenkt durch den wachsamen Dienst eines Priors, der in seiner Person Christus darstellt. Die konsequente und hochherzige Übung führte langsam zu einer beachtlichen Reife und erreichte den Gipfel gegen Ende des 14. Jahrhunderts. Der Provinzial der Katalanischen Ordensprovinz Felipe Ribot (+ 1391), beschrieb dieses Ideal wie folgt:

"Dieses Leben in der Nachfolge des Elija hat ein zweifaches Ziel: Das eine können wir - mit Hilfe der göttlichen Gnade - durch eigene Anstrengung und durch die Übung der Tugenden erreichen. Es besteht darin, Gott ein reines und heiliges Herz anzubieten, das frei ist von jeder Sünde.

Die "Grotte des Elija", ehemalige Zisterne, einst auch als Begräbnisstätte verwendet.
Auf dem Altar die Statue des Propheten.

Das andere Ziel dieser Lebensweise wird uns als unverdientes Geschenk von Gott gegeben. Es besteht darin, daß wir nicht erst nach dem Tod, sondern schon in diesem sterblichen Leben ein wenig die Kraft der göttlichen Gegenwart und die Freude der himmlischen Herrlichkeit in unserem Herzen verkosten und in unserem Geist erfahren dürfen."

Zwei Ziele sind es, zwei Vorhaben, die unterschiedlich und doch eng miteinander verbunden sind. Das eine ist aszetischer Natur als Voraussetzung, das andere mystischer Natur als Krönung.

Hinzugefügt werden muß noch, daß diese wesentlichste Verpflichtung uns die Initialzündung der Unsrigen offenbart, indem sie uns zeigt, wie sie, verzehrt von einem brennenden Durst nach der Begegnung mit Gott, absolute Werte gesucht haben. Später wurde der karmelitanischen Spiritualität gerade durch dieses wichtigste Tun eine ganz besondere Prägung aufgedrückt. Sie zeigt sich in einer glühenden Sehnsucht nach der innigsten Vertrautheit in der Umarmung des Herrn, nach der mystischen Erfahrung Seiner Eigenschaften. Ja, man kann noch ergänzen: Dieser dynamische Einfluß hat eine wunderbare "Schule der Spiritualität" ins Leben gerufen, deren Hauptvertreter und Anführer zwei Kirchenlehrer sind: Teresa von Jesus und Johannes vom Kreuz.

Um den Karmeliten die Verwirklichung ihres erhabenen Vorhabens zu ermöglichen und zu erleichtern, fügte Albert auch noch einige praktische Normen hinzu. Sie tragen den Stempel evangelischer Radikalität und sind - zum großen Teil - wortwörtlich der Heiligen Schrift entnommen. Wir wollen hier nur auf die wichtigsten Normen hinweisen:

1) Kollektiver Eremitismus oder "Flucht aus der Welt": Die Brüder sollen sich an abgelegenen Orten niederlassen, entfernt vom Lärm bewohnter Städte; sie sollen in klösterlicher Einsamkeit leben, unter dem wachsamen Auge des Priors, der seine Zelle beim Eingang der Niederlassung hat.

2) Persönlicher Eremitismus, fast könnte man sagen "Wüste" innerhalb der "Wüste": Jeder einzelne Eremit soll sich für gewöhnlich in seiner von den anderen abgesonderten Zelle aufhalten, so daß er ungestört Gott suchen kann, den Gott, der es liebt, sich in der Einsamkeit zu offenbaren.

3) Äußeres Schweigen: Es ist die Voraussetzung für das innere Schweigen und bedeutet einen maßvollen Umgang mit dem menschlichen Wort, das nicht selten zerstreut. Im Schweigen kann der Einsiedler die Fähigkeiten und Kräfte seiner Seele zur Ruhe bringen und ist dann fähig, mit Leichtigkeit das "Wort" zu vernehmen, das "Göttliche Wort" - in ewigem Schweigen gesprochen vom Vater.

4) Kontemplatives Gebet: Es kann erworben werden durch das bereitwillige Hören auf das Wort Gottes in den Heiligen Schriften. Auf Anregung des Heiligen Geistes wird es in die Tat umgesetzt, findet seinen Ausdruck und den rechten Weg durch die Bitte um die Hilfe Gottes. Kontemplatives Beten erfüllt mit Staunen und Bewunderung, wenn es dem Beter geschenkt wird, das Wort zu verstehen und zu verkosten.

5) Körperliche Abtötung: Sie findet verschiedene Ausdrucksformen: einfache Handarbeiten, ständiger Verzicht auf Genuß von Fleisch, verlängerte Fastenzeit vom Fest Kreuzerhöhung (14. September) bis Ostern, als Zeichen aktiver Anteilnahme am Paschamysterium Christi.

6) Gemäßigtes gemeinsames Leben: Es wird jeden Tag genährt durch die gemeinsame Feier der Heiligen Messe; jede Woche durch das Konventkapitel mit der brüderlichen Zurechtweisung wegen begangener Fehler; und - von Zeit zu Zeit - durch die Wahl des Priors.

All diese weisen Normen helfen dem Karmeliten, sich dem Bild des Sohnes Gottes gleichzugestalten, in besonderer Weise dem "betenden" und dem "leidenden" Christus.

Der Text der albertinischen Regel wurde zum ersten Mal am 30. Jänner 1226 von Papst Honorius III. approbiert. Zwanzig Jahre später bestätigte Innozenz IV. die abgeänderte Regel und reihte damit die Karmeliten in die Zahl der Mendikantenorden ein.

Zwei Dominikaner, Hugo von St. Cher, Kardinal von Santa Sabina, und Wilhelm, Bischof von Antaradus, wurden beauftragt, gewisse Härten der Regel zu mildern. Sie erfüllten diese Aufgabe mit viel Geschick, indem sie den ursprünglichen Text größtenteils und alle das innere Leben betreffenden Anordnungen vollkommen unangetastet ließen.

Dadurch blieb das kontemplative Ideal erhalten. An Neuerungen führten sie nur wenige Änderungen ein, die unbedingt notwendig waren, um auch die Entwicklung des äußeren Apostolates zu ermöglichen, das den "Mendikanten" eigen war.

Und siehe da: nach der Revision hatte das "Vorhaben" oder die ursprüngliche Zielsetzung d. h. das kontemplative Charisma, nicht nur keinen Schaden erlitten, sondern erstrahlte noch heller, weil es angereichert war von einer vertikalen Ausrichtung.

Kraft jener Revision - gutgeheißen durch die Bulle "Quae honorem Conditoris" vom 1. Oktober 1247 - wurde die "prophetische", apostolische Aufgabe zu einem wesentlichen, unverzichtbaren Element des Karmeliten. Wegen seines umfassenden Charismas war er nun auch berufen, Bruder der Menschen zu sein. Anstatt sich ausschließlich mit einer Art von Gebet zu befassen, die in die Isolation führte und die den Beter hermetisch in sich selbst einschloß, weil er sich einer falschen Kontemplation hingab, war der Karmelit von diesem Zeitpunkt an verpflichtet, sich für die Welt, die ihn umgibt, zu öffnen und sie teilhaben zu lassen an den in der Vertrautheit mit dem Herrn gereiften Früchten: er geht jetzt aus der Fülle der Kontemplation hinaus zu den Menschen, um bei ihnen fruchtbare apostolische Aktion zu entfalten.

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