Als Lehrerin in Speyer

In Freiburg fühlte sie sich nicht mehr wohl. Seit ihrer Taufe hatte sie das Verlangen, sich mit letzter Hingabe Gott zu schenken. Pfarrer Breitling, der sie in Bergzabern getauft hatte, verwies sie an seinen Kursgenossen, den Speyerer Generalvikar Schwind, der ihr väterlicher Freund, Beichtvater und geistlicher Berater wurde. Pater Erich Przywara nannte ihn den "unvergeßlichen, weisen und gütigen Generalvikar Dr. Schwind". Dieser kluge Seelsorger riet Edith Stein ab, jetzt schon, das heißt unmittelbar nach der Taufe, in einen Orden einzutreten. Zuerst sollte sie in der katholischen Kirche heimisch werden. So vermittelte er ihr eine Stelle als Lehrerin am Lehrerinnenseminar, das in Speyer von den Dominikanerinnen zur Hl. Maria Magdalena geführt wurde. Edith Stein wohnte auch im Kloster.

Als Lehrerin war sie streng, sie legte hohe Maßstäbe an. Einmal verließ sie wütend die Klasse, weil niemand einen Satzteil bestimmen konnte. Eine ehemalige Schülerin erinnert sich: "Fräulein Doktor hatte auch etwas Unnahbares, es war ein zu großer Ahstand. Sie war eben zu gescheit und bedeutend. So hatten wir alle eine ganz eigene Scheu vor ihr. Doch als Schülerin hatte ich wieder großes Vertrauen zu ihr. Meine persönlichen Ansichten und innersten Gefühle konnte ich in den Schülerarbeiten, die nur in ihre Hände kamen, rückhaltlos niederlegen. Ich empfand ganz tief, hier darfst du alles sagen, hier kannst du ganz offen und wahr sein, ohne mißverstanden zu werden . . . Sie war niemals kleinlich, und nie fühlte sich jemand verletzt oder bloßgestellt. Die Stunden zu Füßen von Fräulein Stein gehören zu den schönsten Erinnerungen meiner Seminarzeit." Eine andere Schülerin sagt: "Fräulein Doktor erteilte uns den Deutschunterricht. In Wirklichkeit gab sie uns alles."

In diesen Speyerer Jahren war Edith Stein für viele eine Ratgeberin in Lebensfragen, nicht nur für ihre Schülerinnen, auch für Priester und Ordensleute. Bei aller Zurückhaltung hatte sie vielfältige Kontakte. Sie war groß im Schenken. Sie dachte an Geburts-und Namenstage. Vor Weihnachten war ihr Zimmer voll von Päckchen. Sie lebte anspruchslos und schenkte den Armen. Die Diakone des Speyerer Priesterseminars mußten in der Klosterkirche St. Magdalena in den Maiandachten predigen. Ein Diakon aus jener Zeit erzählte mir, er habe nach der Maiandacht von Edith Stein einen Blumenstrauß erhalten als Zeichen der Ermutigung und Anerkennung. Es war nicht der einzige. Und an jedem Samstag ging ein Brief an die Mutter nach Breslau ab.

Im Jahre 1925 kam es in der Wohnung von Generalvikar Schwind auf dessen Veranlassung zu der wichtigen Begegnung mit Pater Przywara. Der geniale Jesuitengelehrte riet Edith Stein, sich mit Thomas von Aquin zu beschäftigen und regte die Übersetzung der "quaestiones disputatae de veritate" des hl. Thomas an, die sie in Speyer erstellte. Diese Begegnung hatte ferner zur Folge, daß Edith Stein eine rege Vortragstätigkeit unternahm. Ihr Vortrag "Das Ethos der Frauenherufe" bei den Hochschulwochen 1930 in Salzburg war ein Höhepunkt.

Wichtiger aber als die äußere Aktivität war, was in ihrem Innern vor sich ging. Sie lebte wie eine Klosterfrau, legte in den Speyerer Jahren privat die drei Gelübde ab und war eine ganz große Beterin. In der Nähe des Tabernakels hatte sie einen Betstuhl an einem Platz, der vom Kirchenschiff nicht einzusehen war. Oft und lange betete sie vor dem Allerheiligsten, untertags, am Abend, in der Nacht, manchmal die ganze Nacht hindurch. Bewegungslos kniete sie da, ganz ins Gehet versunken. Eine Schwester, die damals zeitweise an der Pforte tätig war, berichtete: "Das Geheimnis der Heiligen Nacht mußte es Fräulein Doktor angetan haben! Die Mitternachtsmesse war vorbei, die Kirche hatte sich geleert, die Lichter waren ausgeschaltet. Niemand gewahrte die stille Beterin unter der Empore. Auch die letzte Kirchentür wurde geschlossen. Am Morgen beim Öffnen der Tür traute die Sakristanin kaum ihren Augen: Vor der Weihnachtskrippe kniete, im Gebet versunken, Edith Stein. Als die Schwester hernach sich voller Sorgen bei ihr entschuldigen wollte, weil sie durch ihre vermeintliche Unachtsamkeit Fräulein Doktor um ihren Schlaf gebracht hatte, meine diese: ‘Wer kann schlafen in einer Nacht, in der Gott Mensch wurde!’ Edith Stein verbrachte auch bei anderen Gelegenheiten die Nacht in der Kirche. In einem ähnlichen Fall meinte die Pfortenschwester am Morgen: ‘Wie müssen Sie müde gewesen sein!’ Die Antwort war eine Frage: ‘Müde hei ihm?’"

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