III. Die Nacht der Bekehrung

Sommer 1921. Edith hält sich in Bergzabern auf, bei ihren Freunden Hedwig Martius und Theodor Conrad. In den freien Stunden diskutieren sie gerne über Philosophie.

Eines Abends fahren Hedwig und Theodor weg. Edith bleibt zu Hause und geht zum Bücherschrank: "Ich griff hinein aufs Geratewohl und holte ein umfangreiches Buch hervor. Es trug den Titel -Leben der Heiligen Theresia von Avila‘, von ihr selbst geschrieben. Ich begann zu lesen, war sofort gefangen und hörte nicht mehr auf bis zum Ende. Als ich das Buch schloß, sagte ich mir: -Das ist die Wahrheit!’" (T, 76).

Die Morgendämmerung bricht an. Edith hat die ganze Nacht gelesen. Gott hat sie ergriffen. Entschlossen, zum christlichen Glauben überzutreten und sich auf die Taufe vorzubereiten, kauft sie noch am selben Morgen einen katholischen Katechismus und ein Meßbuch. Von dieser Nacht an spürt sie in sich die Sehnsucht, Karmelitin wie die Heilige aus Avila zu werden.

"Mein Geheimnis gehört mir"

Selbst mit ihrer Freundin Hedwig Martius, einer Protestantin, wollte Edith nicht offen über ihren plötzlichen Zugang zum Glauben reden. Sie antwortete ihr: Secretum meum mihi. "Mein Geheimnis gehört mir." Versuchen wir dennoch zu erahnen, was in dieser Nacht auf so einschneidende Art und Weise mit ihr geschehen ist.

1. Der unwiderstehliche Eindruck, den die Autobiographie von Teresa von Avila auf Edith gemacht hat, läßt sich am besten erahnen aus ihrem eigenen Zeugnis nach der Lektüre der Autobiographie einer anderen Thérèse, der von Lisieux. Ihrer Philosophen-Freundin Adelgundis Jaegerschmid, die durch den Stil der Heiligen verwirrt ist, antwortet Edith - gewöhnt, einen Text in seiner ganzen Tiefe zu durchdringen: "Was Sie über die kleine Theresia schrieben, hat mich überrascht. Ich habe daraus erst gesehen, daß man es von dieser Seite sehen kann. Mein Eindruck war nur der, daß hier ein Menschenleben einzig und allein von der Gottesliebe bis ins Letzte durchgeformt ist. Etwas Größeres kenne ich nicht, und davon möchte ich soviel wie möglich in mein Leben hineinnehmen und in das aller, die mir nahestehen" (VIII, 133).

Eine ähnliche Faszination hat Edith wohl auch angesichts der Autobiographie von Teresa von Avila (1515 - 1582) verspürt. Mit 29 Jahren, gelehrt und gebildet, besitzt sie bereits eine - allerdings noch vage und theoretische - Kenntnis der großen Linien der christlichen Religion. Was aber absolut neu und fesselnd für sie gewesen sein muß, das ist die ganz klare Art und Weise, wie Teresa das aktuelle und völlig verwandelnde Wirken ihres göttlichen Vielgeliebten in ihrer Seele darlegt, der sie mit Seiner Gegenwart überwältigt.

In ihrem Buch bietet Teresa eine meisterliche Beschreibung des Weges des Gebetes, das sie als lebendige Beziehung mit einem "Freund" erfährt, als einen "Freundschaftsverkehr, bei dem wir uns oftmals im geheimen mit dem unterreden, von dem wir wissen, daß er uns liebt" (Leben 8, 5) - eine Begegnung, die imstande ist, sich auf geheimnisvolle Weise in mystischer Erfahrung zu entfalten.

Das Bild eines ganz nahen und liebenden Gottes hat Edith in der Religion ihrer Mutter nie erleben können - weshalb sie auch im Alter von 15 Jahren Gebet und Glauben aufgegeben hatte. Hier eröffnet sich ihr nun eine ganz neue Perspektive.

2. Außerdem erzählt diese Autobiographie von der Erfahrung einer Bekehrung. Edith liest darin den Bericht über ein zunächst schmerzhaft hin- und hergerissenes Leben, über eine lange innere Zerrissenheit, bevor Teresa im Alter von 39 Jahren den unermüdlichen Bemühungen des barmherzigen Gottes nachgibt. "Ich führte ein höchst qualvolles Leben", erzählt Teresa. "Auf der einen Seite rief mich Gott, auf der anderen folgte ich der Welt; während ich große Freude an allen göttlichen Dingen hatte, fesselten mich die weltlichen" (Leben 7,14). "Auf diesem ungestümen Meere trieb ich mich fast zwanzig Jahre herum, beständig fallend und mich wieder erhebend, leider aber nur, um danach aufs neue zu fallen" (Leben 8,2). "Ich verlangte nach Leben; denn ich sah wohl ein, daß ich nicht lebte, sondern mit einer Art Todesschatten rang" (Leben 8,12).

Der einzige Ausweg für Teresa ist die Bekehrung. Sie "denkt sehr oft an die Bekehrung" von Maria Magdalena (Leben 9,2). Die Bekehrung des heiligen Augustinus ist wie ein Spiegel für sie: "Ich begann also die Bekenntnisse des heiligen Augustin zu lesen. Dabei kam es mir vor, als sähe ich mich selbst darin geschildert, und ich fing an, mich diesem glorreichen Heiligen zu empfehlen. Als ich aber zu seiner Bekehrung kam und las, wie er jene Stimme im Garten hörte, da meinte ich nicht anders, als daß der Herr die nämliche Stimme auch mich in meinem Herzen vernehmen ließ" (Leben 9,7).

Teresa ist noch mehr erschüttert, als sie die Statue eines Christus sieht, der ganz mit Wunden bedeckt ist: "Bei dem Gedanken an die Undankbarkeit, womit ich Ihm diese Wunden vergolten, war mein Schmerz so groß, daß mir das Herz zu brechen schien. ... Ich meine, damals zu Ihm gesagt zu haben, ich würde nicht eher aufstehen, als bis Er meine Bitte erhört hätte. Denn ich hatte schon großes Mißtrauen auf mich selbst und setzte jetzt mein ganzes Vertrauen auf Gott" (Leben 9,1-2).

In diese Seiten versunken, vor dem Spiegel der heiligen Teresa, in der Stille der Nacht konnte Edith besser die Leere ihrer eigenen Entfernung von Gott erfassen und begreifen - diesen Zustand der Armut und Sünde, den jeder ehrliche Mensch erkennt, wenn er sich in einem übermäßig hellen Licht betrachtet. Wer ist sie denn, um Gott zurückzuweisen?

3. Und dieser Gott, der liebt und sucht und rettet, das ist Jesus, dieser jüdische Bruder. Teresa spricht ständig von Christus, hört nicht auf, Ihn zu preisen, der sie zu einem neuen, so intensiven und fruchtbringenden Leben erweckt hat. Als kluge Phänomenologin, sensibel für die Wahrnehmung der "Phänomene", die sie mit der Intuition ihres weiblichen Herzens und der - für ihr Denken so wichtigen - Einfühlung beobachtet, ist Edith von diesem Zeugnis Teresas ergriffen.

Seit ihrem Aufenthalt in Göttingen hat Edith von Christus überzeugte Menschen getroffen. Seit 1917 hat sie sich sogar mit den Evangelien, den Berichten und Zeugnissen ihrer fernen jüdischen Brüder befaßt, die bereit waren, Christus bis zum Märtyrertod zu bezeugen. Jetzt trifft sie in Teresa auf eine letzte Zeugin für den Auferstandenen, die für sie die Brücke zwischen ihr und Jesus Christus schlägt. Edith begreift, daß ihr jüdischer Bruder Christus kein erleuchteter Hochstapler ist, sondern der Gesandte von der Höhe, der Messias, der Sohn Gottes. "Das ist die Wahrheit!", schließt Edith.

Und als sie gerade dabei ist, das Buch zu schließen, liest sie im allerletzten Kapitel die Worte, die Teresa von Christus vernommen hat: "Weißt du, was es heißt, mich in Wahrheit lieben? Es heißt erkennen, daß alles, was mir nicht wohlgefällt, Lüge ist" (Leben 40,1).

"Meister!"

Diese stille Nacht in Bergzabern war für Edith Stein die Osternacht. Als der Morgen kommt, steht sie vor den Toren Jerusalems. Ein toter und abstrakter Christus ist für sie zum lebendigen und konkreten Christus geworden, den sie liebt, wie Teresa Ihn geliebt hat.

Aus den Seiten des Buches von Teresa ist Edith der Viel-Geliebte entgegengetreten - ihr, "deren Herz brannte" (Lk 24,32), wie den Jüngern von Emmaus, als der Auferstandene sie begleitete. Mit den Ohren der Seele hört sie leise ihren Namen sagen, wie auch Maria Magdalena ihn vernommen hat (Joh 20,16): "Edith!" - Es ist ein reines Geschenk der Gnade, doch mit bedingungsloser Offenheit angenommen. Und so wie Maria Magdalena antwortet Edith: "Meister!"

In dieser Nacht erlebte Edith ihre österliche Erfahrung, ihre Pfingsttaufe, ihre Bekehrung zum Glauben durch die Gnade Christi. Es schien ihr nicht nur gerechtfertigt, sondern klar und logisch, die Hand zu ergreifen, die sie ergriffen hatte.

Vorbei ist die Gleichgültigkeit. Die lodernde Flamme einer ganz und gar entschlossenen Liebe ist entzündet. Es bleibt nur mehr die Sehnsucht.

In der Haltung totalen Anhängens beschließt Edith, alles zu geben, sich selbst zu geben, Christus in der Demut des Glaubens und der Absolutheit der Liebe zu folgen. Das existentielle Zeugnis Teresas hat sie endgültig von sich selbst losgelöst und im Ewigen verankert.

Edith Stein ist von nun an Edith von Christus, und sie wird eins mit der Kirche ihres Bräutigams. Gleichzeitig nimmt sie sich vor, Tochter der großen "Madre" zu werden, um nichts anderes zu sein als Jüngerin Christi, im Schoß der Gemeinschaft der Kirche.

Secretum meum mihi... Edith wollte das Geheimnis für sich bewahren, dieses Geheimnis, das in einer lebendigen Beziehung zu Christus und der Zärtlichkeit eines Herzens besteht, das "Ja" sagt.

Seit dieser Nacht in Bergzabern ist Edith nie wieder allein.

Wer sich
den Händen
des Herrn
ganz übergibt,
kann vertrauen,
daß er
sicher
geleitet wird.

Edith Stein

"Ihr seid auf Christus getauft" (Gal 3,27)

Noch am selben Morgen ihrer Bekehrung kauft Edith einen Katechismus und ein Meßbuch, um sich auf ihre Taufe vorzubereiten. Einige Zeit später betritt sie - in Bergzabern - zum erstenmal eine katholische Kirche, um der heiligen Messe beizuwohnen. "Nichts blieb mir fremd; dank der vorhergehenden Studien verstand ich auch die kleinste Zeremonie" (X, 42).

Nach der Messe bittet sie den Priester ohne Umschweife um die Taufe. Seinem Einwand, dies erfordere eine ernsthafte Vorbereitung, hält sie entgegen: "Prüfen Sie mich!" Er geht mit ihr die gesamte katholische Theologie durch: Edith gibt sich nicht die geringste Blöße!

Alles wird für den 1. Jänner 1922 vorbereitet. Mit der Erlaubnis des Bischofs wird Ediths Freundin, die Protestantin Hedwig Martius, ihre Taufpatin sein. Als Taufkleid wird Edith den weißen Hochzeitsmantel von Hedwig tragen. Aus Dankbarkeit für die unvergeßliche Gnade, die ihr in dem Haus in Bergzabern zuteil wurde, nimmt sie als Taufnamen Teresia und Hedwig an.

Edith verbringt einen großen Teil der Nacht zum 1. Jänner im Gebet. Am Morgen wird sie getauft und nimmt zum erstenmal in der Kommunion den Leib Christi zu sich - dieses Jesus, der an ihre Tür geklopft hat, den sie als "den Weg, die Wahrheit und das Leben" (Joh 14,6) erkannt hat.

Wer könnte die Freude ausdrücken, die sie in ihrem Herzen verspürt? Secretum meum mihi... Hedwig erinnert sich später: "Am schönsten von allem war ihre strahlende Freude, die Freude eines Kindes!"

Zehn Jahre später schreibt Edith an Erna Hermann, die sich ihrerseits auf die Taufe vorbereitet: "Daß sich vor dem entscheidenden Schritt noch einmal alles vor einen hinstellt, was man preisgibt und wagt, liegt nur in der Natur der Sache. Es muß ja so sein, daß man sich ohne jede menschliche Sicherung ganz in Gottes Hände legt, umso tiefer und schöner ist dann die Geborgenheit. Daß Sie den vollen Gottesfrieden finden möchten, das ist mein Wunsch für Ihren Tauftag und für Ihr ganzes künftiges Leben" (VIII, 102).

Eine schwierige Aufgabe hat Edith nun noch vor sich: Sie muß ihrer jüdischen Mutter ihre Konversion gestehen... Nach ihrer Rückkehr nach Hause nützt sie die Gelegenheit. Ihrer Priorin und Vertrauten im Karmel, Sr. Teresia Renata, erzählt Edith später, wie sie sich eines Tages vor ihrer Mutter niederkniete und ihr - indem sie ihr ruhig in die Augen blickte - sagte: "Mama, ich bin katholisch."

Frau Stein hatte in zahlreichen Prüfungen ihren Kopf nicht verloren und sieben Kinder mit fester Hand erzogen. Ihre Tochter hatte sie nie weinen gesehen. Doch während Edith mit einer heftigen Reaktion, vielleicht sogar mit der Ausstoßung aus der Familie rechnete, beginnt sie jetzt zu weinen... Und Edith weint mit ihr. Diese beiden Frauen, die einander mehr als jeden anderen Menschen lieben, begreifen, daß ihre Wege sich unerbittlich getrennt haben.

Und in der Kraft ihres Glaubens bringen sie Gott den Schmerz ihres Herzens dar.

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