IV. Ediths Ausstrahlung

Am 2. Februar 1922, dem Fest der Darstellung Jesu im Tempel, empfängt Edith in der Kapelle der Kathedrale von Speyer das Sakrament der Firmung:ein reifer Christ nimmt ernst seine Aufgabe.

Eine neue Welt - der Beziehung zu Jesus und des Gebetes für die ganze Menschheit - hat sich ihr eröffnet, und sie träumt davon, diese Welt von nun an im Karmel zu bewohnen und zu erforschen. Doch sie begreift, daß ihre jüdische Mama im Moment nicht den zweiten Schock einer Trennung für immer - durch ihren Eintritt in ein Kloster - ertragen könnte.

Generalvikar Schwind, der in den folgenden Jahren ihr geistlicher Begleiter ist, ermutigt sie sehr, ihre Talente in den Dienst der anderen zu stellen. Er vermittelt ihr einen Platz in Speyer, im Institut St. Magdalena, das von den Dominikanerinnen geführt wird.

Edith findet dort einen Ort des Gebetes und der Betrachtung und gleichzeitig auch eine Unterkunft und die Möglichkeit, eine Lehrtätigkeit auszuüben. Von Frühling 1923 an unterrichtet sie dort Deutsch und Literaturgeschichte.

Wissenschaftlerin und Apostel

Eine ihrer Studentinnen hat dieses schöne Zeugnis abgelegt: "Wir waren 17 Jahre alt, und Fräulein Doktor erteilte uns den Deutschunterricht. In Wirklichkeit gab sie uns alles. Wir waren noch sehr jung, aber den Zauber ihrer Persönlichkeit hat keine von uns vergessen. Täglich sahen wir sie auf ihrem Gebetsschemel knien, vorne im Chor, während der Messe. Da ging uns eine Ahnung auf, was es bedeutet, Glauben und Lebenshaltung in vollkommene Übereinstimmung zu bringen. Für uns in jenem kritischen Alter war sie schon durch ihre Haltung allein das Vorbild" (T, 83).

In der Zwischenzeit setzt sie die Veröffentlichung philosophischer Artikel fort. Aus dem Englischen übersetzt sie Werke von John Henry Newman. "Es ist sehr schön für mich", schreibt sie im Jahr 1924 an Roman Ingarden, "mit einem Geist wie Newman in so nahe Fühlung zu kommen, wie es das Übersetzen mit sich bringt. Sein ganzes Leben ist nur ein Suchen nach der religiösen Wahrheit gewesen und hat ihn mit unausweichlicher Notwendigkeit zur katholischen Kirche geführt" (XIV, 154-155).

Von 1926 an arbeitet sie daran, die umfangreichen "Quaestiones disputatae de veritate" des hl. Thomas von Aquin zu übersetzen: Wieder geht es um die "Wahrheit" - ein faszinierendes Motiv für Edith.

Nach dem Tod von Generalvikar Schwind im Jahr 1927 verbringt Edith jedes Jahr die Kartage und Ostern in der Benediktinerabtei von Beuron, wo Abt Raphael Walzer ihr neuer geistlicher Begleiter wird. Der Abt sagt später über sie: "Selten habe ich einen Menschen getroffen, der so viele und hohe Eigenschaften vereinigt hatte. Sie war schlicht mit einfachen Menschen, gelehrt mit Gelehrten, ohne alle Überhebung, mit Suchenden eine Suchende, beinahe möchte ich hinzufügen, mit Sündern eine Sünderin" (T, 95).

Abt Walzer weist Edith darauf hin, daß ihre Aufgabe im Moment in der Welt besteht, in ihrer wissenschaftlichen und pädagogischen Mission, im Dienst der Liebe. Und Edith fügt sich, und stellt ihren Wunsch, in den Karmel einzutreten, zurück.

Jeden Tag betet sie lange Zeit. Und jeden Tag verschenkt sie sich großherzig an die, die ihr begegnen: "Es kommen viele Leute zu mir, und jeder, der glaubt, daß er bei mir Hilfe finden kann, ist mir herzlich willkommen" (VIII, 68).

Man könnte sich fragen, wie sie eine solch unermüdliche Aktivität entwickeln konnte - doch Edith reagiert nur auf einen inneren Rhythmus, der ihr durch die konkrete Aufgabe vorgegeben ist. Sie erklärt dazu: "Ich tue, soviel ich kann. Das Können steigert sich offenbar mit der Menge der notwendigen Dinge. Wenn nichts Brennendes vorliegt, hört es viel früher auf. Der Himmel versteht sich sicher auf Ökonomie..."

Es ist wichtig, so setzt Edith fort, schon am Morgen mit Gott in Kontakt zu treten, "als ob es sonst überhaupt nichts gäbe und das täglich" (T, 97).

Neben ihrer Tätigkeit als Lehrerin und Philosophin wird Edith bald zu Tagungen in zahlreiche Städte eingeladen: Freiburg, München, Köln, Zürich, Genf, Wien, Prag, Heidelberg, Ludwigshafen, Paris, Salzburg, Basel, Bendorf, Aachen...

Als Laiin und Fachfrau spricht sie gern über den - im öffentlichen Leben ausgeübten - Beruf der Frau und betont mit Nachdruck die Gleichheit der Rechte. Oft erörtert sie pädagogische Probleme, insbesondere die Bildung der Persönlichkeit und die Berufung der Frau.

"An der Hand des Herrn"

Nach Ediths Meinung kann auch die wissenschaftliche Arbeit als "Dienst für Gott" gelebt werden. Seit sie katholisch ist, ist jede Tätigkeit für sie ein Apostolat. "Wenn ich über das Übernatürliche nicht sprechen sollte", schreibt sie 1931 an Sr. Adelgundis Jaegerschmid, "würde ich wohl überhaupt auf kein Rednerpult hinaufgehen. Es ist im Grunde immer eine kleine, einfache Wahrheit, die ich zu sagen habe: wie man es anfangen kann, an der Hand des Herrn zu leben" (VIII, 87).

Edith möchte den Menschen zu seinen spirituellen und religiösen Grundlagen zurückführen; sie möchte, wie Newman es ausdrückte, zu einer "Persönlichkeitskultur, die echter Heiligkeit zum Verwechseln ähnlich sieht" (V, 6) gelangen.

Man hat den Eindruck, ein Selbstporträt vorzufinden, wenn Edith sich über bestimmte Veranlagungen der tiefgründigen Seele der Frau verbreitet, die von sich selbst leer werden muß, um Leben zu schenken, die warmherzig, ruhig und großzügig sein soll. Nichts Menschliches ist ihr in dieser unserer Welt fremd, doch Edith betont, man dürfe es nie unterlassen, wach zu sein für die Gegenwart und die Gnade Gottes.

"Wenn wir morgens erwachen, wollen sich schon die Pflichten und Sorgen des Tages um uns drängen... Man möchte gehetzt auffahren und losstürmen. Da heißt es, die Zügel in die Hand nehmen und sagen: Gemach! Vor allem darf jetzt gar nichts an mich heran. Meine erste Morgenstunde gehört dem Herrn. Das Tagewerk, das Er mir aufträgt, das will ich in Angriff nehmen, und Er wird mir die Kraft geben, es zu erfüllen... -Was begehrst Du, Herr, von mir?‘ Und was ich nach stiller Zwiesprache als nächste Aufgabe vor mir sehe, daran werde ich gehen... Meine Seele wird erfüllt sein von heiliger Freude, von Mut und Tatkraft. Groß und weit ist sie geworden, weil sie aus sich herausgegangen und in das göttliche Leben eingegangen ist. Als eine ruhige Flamme brennt in ihr die Liebe, die der Herr entzündet hat" (T, 113).

Angesichts der Schwierigkeiten, dem Druck, den unvorhergesehenen Dingen, die der Tag uns bringt, könnten uns neuerlich Unruhe, Aggressivität, Unzufriedenheit erfassen. "Wo ist nun die Morgenfrische der Seele?"

"Atme wieder tief ein", rät Edith! Von Zeit zu Zeit beim Herrn Zuflucht suchen: "Er ist stets gegenwärtig. Er kann uns in einem einzigen Augenblick schenken, was wir brauchen."

Und wenn die Nacht kommt, lädt Edith uns ein, "alles in die Hände Gottes zurückzulegen, Ihm alles anzuvertrauen. So wird man in Ihm ausruhen können, wahrhaft ausruhen, um den nächsten Tag wie ein neues Leben zu beginnen" (T, 114).

Jüdin... Lehrverbot!

Nachdem sie acht Jahre in Speyer unterrichtet hat, kehrt Edith im März 1931 nach Breslau zurück. Sie fühlt das Bedürfnis, sich mehr ihrer philosophischen Arbeit zu widmen, im besonderen ihrer Arbeit über den hl. Thomas von Aquin. Überdies strebt sie die Zulassung an der Universität Freiburg oder Breslau an. Aber alle ihre Versuche scheitern: Aufgrund des - gleichzeitig mit dem Nationalsozialismus - zunehmenden Antisemitismus wird es für eine Jüdin unmöglich, eine Professur an einer Universität zu erhalten.

Im Frühling 1932 wird ihr eine Lehrkanzel in Münster angeboten, am Deutschen Institut für wissenschaftliche Pädagogik. Edith nimmt an. Sie zieht in das Collegium Marianum, wo viele junge Ordensfrauen in Ausbildung wohnen. Die Dozentin begnügt sich mit zwei einfachen Zimmern und nimmt die Mahlzeiten gemeinsam mit den Studierenden ein: eine Sensation! Was ihr in diesem Haus gefällt, ist die eucharistische Gegenwart in der Kapelle, wo sie oft lange Zeit vor dem Allerheiligsten verbringt.

Nach dem Wahlsieg der Nationalsozialisten Anfang 1933 wird Hitler Kanzler des "Dritten Reiches", und ein neues Gesetz schließt alle Nicht-Arier von öffentlichen Funktionen aus; an erster Stelle sind davon die Juden betroffen.

Edith sieht die sich abzeichnende Verfolgung der Juden voraus und daß das Christentum und die politische Freiheit bedroht sind. Wochenlang überlegt sie, was sie in bezug auf die Juden-Frage unternehmen kann, und entschließt sich schließlich, den Papst um eine Privataudienz zu ersuchen. Aufgrund des großen Andrangs wegen des Heiligen Jahres 1933 wird ihr diese jedoch verweigert...

Auf ihrer Reise nach Beuron, um dort die Osterfeiertage zu verbringen, unterbricht sie die Fahrt, um eine Freundin zu besuchen. Am Gründonnerstag gehen die beiden in die Kapelle der Karmelitinnen. Über die Predigt des Priesters berichtet Edith: "Er sprach schön und ergreifend, aber mich beschäftigte etwas anderes tiefer als seine Worte. Ich sprach mit dem Heiland und sagte Ihm, ich wüßte, daß es Sein Kreuz sei, das jetzt auf das jüdische Volk gelegt würde. Die meisten verstünden es nicht; aber die es verstünden, die müßten es im Namen aller bereitwillig auf sich nehmen. Ich wollte das tun, Er sollte mir nur zeigen wie. Als die Andacht zu Ende war, hatte ich die innere Gewißheit, daß ich erhört sei" (T, 130).

Bald darauf geben die Ereignisse ihr zu verstehen, daß sie als Jüdin von der Lehrtätigkeit in Deutschland ausgeschlossen sein wird. Ist das nun nicht die Stunde Gottes, um in den Karmel einzutreten?

Edith erklärt: "Seit fast zwölf Jahren war der Karmel mein Ziel. Seit mir im Sommer 1921 das -Leben‘ unserer hl. Mutter Teresia in die Hände gefallen war und meinem langen Suchen nach dem wahren Glauben ein Ende gemacht hatte. Als ich am Neujahrstag 1922 die hl. Taufe empfing, dachte ich, daß dies nur die Vorbereitung zum Eintritt in den Orden sei. Aber als ich einige Monate später, nach meiner Taufe zum erstenmal meiner lieben Mutter gegenüberstand, wurde mir klar, daß sie dem zweiten Schlag vorläufig nicht gewachsen sei. Sie würde nicht daran sterben, aber es würde sie mit einer Verbitterung erfüllen, die ich nicht verantworten könnte.

Ich mußte in Geduld warten. So wurde mir auch von meinen geistlichen Beratern wieder versichert. Das Warten war mir zuletzt sehr hart geworden. Ich war ein Fremdling in der Welt geworden. Ehe ich die Tätigkeit in Münster übernahm und nach dem ersten Semester hatte ich dringend um die Erlaubnis, in den Orden eintreten zu dürfen, gebeten. Sie wurde mir verweigert mit dem Hinweis auf meine Mutter und auch auf die Wirksamkeit, die ich seit einigen Jahren im katholischen Leben hatte. Ich hatte mich gefügt. Aber nun waren ja die hemmenden Mauern eingestürzt. Meine Wirksamkeit war zu Ende. Und würde mich meine Mutter nicht lieber in einem Kloster in Deutschland wissen als an einer Schule in Südamerika?" (T, 132-133).

Aufbruch in den Karmel

An einem Sonntag, dem Fest des Guten Hirten, geht Edith zu einem Gebetstreffen und sagt sich: "Ich gehe nicht wieder fort, ehe ich Klarheit habe, ob ich jetzt in den Karmel gehen darf. Als der Schlußsegen gegeben war, hatte ich das Jawort des Guten Hirten. Ich schrieb noch am selben Abend an Vater Erzabt" (T, 133).

Die Antwort ist positiv. Edith erinnert sich an eine Freundin in Köln, die die Karmelitinnen gut kennt. Gemeinsam gehen sie zum Karmel.

Edith berichtet: "Während sie im Sprechzimmer war, kniete ich in der Kapelle dicht neben dem Altar der kleinen hl. Theresia [von Lisieux]. Es kam über mich die Ruhe des Menschen, der an seinem Ziel angelangt ist. Die Unterredung dauerte lange. Als mich Frl. C. endlich rief, sagte sie zuversichtlich: -Ich glaube, das wird etwas.’" (T, 134).

So bleibt nun nur noch die harte Aufgabe, ihre Mutter und ihre Familie in Breslau von ihrem Eintritt in Kenntnis zu setzen. Ein ganzes Monat lang bringt Frau Stein immer wieder ihren Widerstand zum Ausdruck.

Edith fühlt sich ganz allein... mit ihrem Gott. "Die Entscheidung war so schwer, daß kein Mensch mir mit Bestimmtheit sagen konnte, dieser Weg oder jener Weg ist der rechte. Für beide ließen sich gute Gründe beibringen. Ich mußte den Schritt völlig in der Dunkelheit des Glaubens tun. Oft habe ich in jenen Wochen gedacht: Wer von uns beiden wird zusammenbrechen, meine Mutter oder ich? Aber wir hielten beide bis zum letzten Tage aus" (T, 141).

Am Abend vor ihrer Abreise begleitet Edith ihre Mutter zur Synagoge. Nach ihrer Rückkehr fragt Frau Stein sie: "War die Predigt nicht schön?" - "Ja!" - "Man kann also auch jüdisch fromm sein?" - "Gewiß", antwortet Edith, "wenn man nichts anderes kennengelernt hat." Und die Mutter meint verzweifelt: "Warum hast du es kennengelernt...? Ich will nichts gegen ihn sagen. Er mag ein sehr guter Mensch gewesen sein. Aber warum hat er sich zu Gott gemacht?"

Im Lauf des Tages kommen die Familie und viele Freunde, um sich von Edith zu verabschieden. Am Abend bleiben Edith und ihre Mama allein im Zimmer. "Da legte Mama das Gesicht in die Hände und fing an zu weinen. Ich stellte mich hinter ihren Stuhl und nahm den silberweißen Kopf an meine Brust. So blieben wir lange, bis sie sich zureden ließ, zu Bett zu gehen. Ich führte sie hinauf und half ihr beim Auskleiden - zum erstenmal im Leben" (T, 143).

Am nächsten Tag geht Edith wie gewöhnlich zur ersten hl. Messe um 5.30 Uhr. Beim Frühstück ißt ihre Mama nichts und weint. "Ich ging wieder zu ihr hin und hielt sie umfaßt, bis es Zeit wurde zu gehen. ... Dann kam der Abschied. Meine Mutter umarmte und küßte mich sehr herzlich" (T, 144).

Mutter und Tochter werden sich auf dieser Erde nicht mehr wiedersehen. Als die Bahn beim Fenster vorbeifährt, steht niemand am Fenster...

Edith ist allein in dem Zug, der sie mit sich mitnimmt. "So war es nun doch wirklich, was ich kaum noch zu hoffen gewagt hatte. Es konnte keine stürmische Freude aufkommen. Dazu war das zu schrecklich, was hinter mir lag. Aber ich war tief beruhigt - im Hafen des göttlichen Willens" (T, 144).

Um ihr eine Freude zu bereiten, verbringt Edith die Nacht in Köln bei einer jungen konvertierten Freundin, deren Taufpatin sie ist. Am nächsten Tag, am 14. Oktober 1933, nach der ersten Vesper zum Fest der heiligen Teresa von Avila, tritt sie in den Karmel von Köln ein. "Ich überschritt in tiefem Frieden die Schwelle zum Hause des Herrn" (T, 145).

Kreuz und Nacht
sind der Weg
zum himmlischen
LICHT,
das ist
die frohe Botschaft
vom Kreuz.

Edith Stein

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