V. Auf einem steilen Pfad

Beim Betrachten des Abschieds von Mutter und Tochter und dem unsichtbaren Dritten fallen einem unwillkürlich die Worte Christi ein: "Ich bin nicht gekommen, um Frieden zu bringen, sondern das Schwert. Denn ich bin gekommen, um den Sohn mit seinem Vater zu entzweien und die Tochter mit ihrer Mutter" (Mt 10,34-35).

Ediths Freundin Hedwig Martius zitiert allerdings zu diesem Thema ein anderes Wort Jesu: "Da sind zwei echte Israelitinnen, Frauen ohne Falschheit" (Joh 1, 47). Mutter und Tochter, hart und wertvoll wie ein Diamant!

Drei Tage nach ihrem Eintritt schreibt Edith an eine andere große Freundin, die konvertiert ist - an Gertrud von le Fort, die sich zu einem Besuch bei Frau Stein aufhält: "Es ist im Augenblick schwer zu sagen, worunter sie am meisten leidet: unter der Trennung von ihrem jüngsten Kind, an dem sie immer mit besonderer Liebe gehangen hat, unter dem Grauen vor der völlig fremden und unzugänglichen Welt, in die es ihr entschwunden ist, oder unter der Gewissensnot, daß sie selbst schuld sei, weil sie mich nicht streng genug im Judentum erzogen hat. Als Anknüpfungspunkte für Sie sehe ich nur die ganz starke und echte Gottesliebe, die meine Mutter hat, und die durch nichts zu erschütternde Liebe zu mir" (VIII, 154).

Vom Karmel aus schreibt Edith ihrer Mutter jede Woche einen Brief, doch ihre Mama antwortet ihr nie; erst gegen Ende fügt sie den Briefen ihrer Töchter ein paar Worte hinzu.

Am 14. September 1936 stirbt Frau Stein. Einige Wochen später schreibt Edith, in gewisser Weise fast unwillig: "Die Nachricht von ihrer Konversion war ein völlig unbegründetes Gerücht. ... Meine Mutter hat bis zuletzt an ihrem Glauben festgehalten. Aber weil ihr Glaube und das feste Vertrauen auf ihren Gott von der frühesten Kinderzeit bis in ihr 87. Jahr standgehalten hat und das Letzte war, was noch in ihrem schweren Todeskampf in ihr lebendig blieb, darum habe ich die Zuversicht, daß sie einen sehr gnädigen Richter gefunden hat und jetzt meine treueste Helferin ist, damit auch ich ans Ziel komme" (IX, 68).

Zwei Jahre später, nach dem Tod von Edmund Husserl, der sich bis zu seinem Ende für seine frühere Assistentin interessiert hat, schreibt Edith im selben Sinn: "Um meinen lieben Meister habe ich keine Sorge. Es hat mir immer sehr fern gelegen zu denken, daß Gottes Barmherzigkeit sich an die Grenzen der sichtbaren Kirche binde. Gott ist die Wahrheit. Wer die Wahrheit sucht, der sucht Gott, ob es ihm klar ist oder nicht" (IX, 102).

Für Edith Stein ist jedoch die Wahrheit im eigentlichen Sinn Jesus Christus - dem sie begegnet ist, der ihr die Kirche als Lebensquell und den Karmel als neues Heim geschenkt hat.

Erzabt Walzer hat dazu folgendes gesagt: " Als ich sie nach den Einkleidungsfeierlichkeiten ganz allein sehen und sprechen konnte, da bat ich sie um eine ganz bestimmte und undiplomatische Antwort auf die Frage, wie sie sich in ihre Schwesterngemeinschaft und die geistige Leitung eingelebt habe. ... Sie fühle sich ganz daheim mit Herz und Geist, gab sie mit der ihr eigenen Lebhaftigkeit einer feurigen Natur zur Antwort" (T, 167-168).

Edith ist bereits 42 Jahre alt, ihr langes Warten und ihre stark ausgeprägte Großherzigkeit haben sie jedoch auf das Leben im Karmel gut vorbereitet. Sie fühlt sich ganz am richtigen Platz: "Immer war es mir, als hätte der Herr mir im Karmel etwas aufgespart, was ich nur dort finden könnte" (T, 149).

Die Freude zu lieben

Im Februar 1935 schreibt Edith: "Ich vermisse nichts, was draußen ist, und habe alles, was ich draußen vermißte" (IX, 30). Doch sie kennt den Preis des Glücks. Beim heiligen Johannes vom Kreuz kann sie lesen, daß der "Aufstieg zum Berg Karmel" ein steiler Pfad ist und daß man durch das "Nichts" gehen muß, um zum "Alles" zu gelangen.

Wie Thérèse von Lisieux spricht sie von der Treue zu den kleinen Aufgaben in jedem Augenblick:"Das ist der -kleine Weg‘, ein Strauß von unscheinbaren kleinen Blüten, der täglich vor dem Allerheiligsten niedergelegt wird - vielleicht ein stilles, lebenslanges Martyrium, von dem niemand etwas ahnt, zugleich eine Quelle tiefen Friedens und herzlicher Fröhlichkeit und ein Born der Gnade, der ins Land hinaussprudelt - wir wissen nicht wohin, und die Menschen, zu denen er gelangt, wissen nicht, woher er kommt" (XI, 9).

Edith gewöhnt sich schnell an ihr neues Leben und nimmt alles an, wie es sich ihr eben ganz konkret darstellt. Bei ihrem Eintritt in den Karmel findet sie im Noviziat drei junge Schwestern vor, die 20 Jahre jünger sind als sie.

Sr. Teresia Renata berichtet: "Es war herzerfreuend zu beobachten, wie sie nach den ersten Wochen des Einlebens aufblühte und sich zusehends verjüngte. Es schien fast, als habe Edith selbst ihre Vergangenheit, ihr Wissen und ihr Können vergessen..." (T, 154).

"Wie oft konnte sie mit ihren Mitschwestern kindlich scherzen und lachen, bis ihr die Tränen über die Backen liefen! Sie gestand, daß sie in ihrem ganzen Leben noch nicht soviel gelacht habe..." (T, 156).

Nach sechs Monaten, am 15. April 1934, wird Edith eingekleidet und erhält den Namen Sr. Teresia Benedicta a Cruce. Am 21. April 1935, zu Ostern, legt sie ihre zeitlichen Gelübde ab.

Sie strahlt. Eine Freundin sagt zu ihr: "Hier im Karmel wirst Du doch wohl geborgen sein." Edith - die Jüdin - antwortet ihr: "O nein, das glaube ich nicht. Man wird mich hier sicher noch herausholen. Jedenfalls darf ich nicht damit rechnen, hier in Ruhe gelassen zu werden" (T, 184).

Doch sie hat ihre unerschütterlichen Überzeugungen: "Das in Vereinigung mit dem Herrn ertragene Leiden ist Sein Leiden, eingestellt in das große Erlösungswerk und darin fruchtbar. Es ist ein Grundgedanke allen Ordenslebens, vor allem aber des Karmellebens, durch freiwilliges und freudiges Leiden für die Sünder einzutreten und an der Erlösung der Menschheit mitzuarbeiten" (VIII, 125).

"Die größten Propheten und Heiligen"

Seit langer Zeit möchte Rosa Stein ihrer Schwester folgen und ebenfalls zum katholischen Glauben übertreten, doch sie wartet - ihrer Mutter zuliebe. Als diese stirbt, beschließt sie, sich taufen zu lassen, und bricht nach Köln auf. Am Abend vor ihrer Ankunft stürzt Edith auf der Treppe: Sie bricht sich die linke Hand und den linken Fuß und wird ins Krankenhaus gebracht. Dort bereitet sie Rosa auf die Taufe vor, die dann am Weihnachtsabend 1936 stattfindet. Auf ihrem Weg zurück ins Kloster kann Edith zu ihrer Freude an der Tauffeier teilnehmen. Als weißen Taufmantel trägt Rosa den langen weißen Mantel ihrer Karmeliten-Schwester: eine wunderbare Geste, die die tiefe Einheit der beiden jüdischen Schwestern, die den Messias entdeckt haben, zum Ausdruck bringt.

Mehrere neue Karmelitinnen sind inzwischen eingetreten; Sr. Teresia Benedicta ist ihre "Älteste" - ruhig und heiter in ihrem Eifer, überlegt in ihrer leidenschaftlichen Sehnsucht, beispielhaft in ihrer Pünktlichkeit. Ihre "größte Strafe" ist es - so gesteht sie -, ununterbrochen die literarische und wissenschaftliche Arbeit zu unterbrechen, die ihr im Gehorsam aufgetragen wurde. Im Karmel schreibt sie zahlreiche kleine spirituelle Werke und vollendet schließlich ihre bedeutende philosophische Arbeit "Endliches und Ewiges Sein" - eine große metaphysische Synthese, bei der die geoffenbarte Wahrheit der philosophischen Wahrheit die Krone aufsetzt. Man ahnt darin einen mystischen Hauch - zurückhaltend, aber doch vorhanden -, eine Vision von Einheit, bei der die einzelnen Elemente in ein einziges ursprüngliches Licht getaucht sind.

Ihrer Diskretion und ihrer Liebe zur Stille gewiß, vertraut die Priorin Edith das Amt der Pförtnerin an, um vom Inneren des Klosters aus die Verbindung mit der Außenwelt sicherzustellen. Edith gibt acht, die Arbeit nicht zu ihrem Idol zu erheben: "Vor dem Angesicht des lebendigen Gottes stehen - das ist unser Beruf" (XI, 2).

Ihr bevorzugter Platz ist beim Tabernakel, "ganz klein am Boden" (IX, 18). Hier befindet sie sich an einem neuralgischen Ort, einem Knotenpunkt, der für die ganze Welt von Bedeutung ist: "Jedes echte Gebet ist Gebet der Kirche... denn es ist der in ihr lebende Heilige Geist, der in jeder einzelnen Seele -für uns bittet mit unaussprechlichen Seufzern‘" (XI, 22). In "Liebe um Liebe" schreibt Edith: "Das Gebet ist die höchste Leistung, deren der Menschengeist fähig ist. Das Gebet ist eine Jakobsleiter [Gen 28,12], auf der des Menschen Geist zu Gott empor- und Gottes Gnade zum Menschen herniedersteigt" (XI, 52).

"Je mehr eine Zeit in die Nacht der Sünde und Gottesferne versunken ist", betont die heilige Edith Stein, "desto mehr bedarf sie der gottverbundenen Seelen. Gott läßt es auch daran nicht fehlen. Aus der dunkelsten Nacht treten die größten Propheten- und Heiligengestalten hervor. Aber zum größten Teil bleibt der gestaltende Strom des mystischen Lebens unsichtbar. Sicherlich werden die entscheidenden Wendungen in der Weltgeschichte wesentlich mitbestimmt durch Seelen, von denen kein Geschichtsbuch etwas meldet. Und welchen Seelen wir die entscheidenden Wendungen in unserm persönlichen Leben verdanken, das werden wir auch erst an dem Tage erfahren, an dem alles Verborgene offenbar wird" (XI, 145).

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