Die biblischen Wurzeln der Regel
P. Roberto Fornara

ZurückNächste Seite

Wadi 'ain es-Siah. Kirchenfassade mit dem in neuester Zeit wiedererrichteteten Bogen des Eingangs.

Die Tora war und bleibt für die Juden die grundlegende Lehre, der richtungsweisende Text schlechthin, der Weg zum Leben, auf dem man den Plan Gottes kennenlernen kann. Keine Ordensregel maßt sich an, das Wort Gottes zu ersetzen, das auch für jeden Christen - umso mehr für jede Ordensgemeinschaft - letzte und höchste Lebensnorm bleibt. Die Regeln der monastischen wie auch der anderen Ordensgemeinschaften haben als Grundlage sehr oft die Heilige Schrift. Aus ihr schöpfen sie in reichem Maße, sie bevorzugen und unterstreichen jedoch einige Themen und Aspekte mehr als andere. Man kann sogar sagen: je mehr die Ausrichtung und der Stil des von der Regel vorgeschriebenen Lebens kontemplativer Natur ist, desto enger ist die Verbundenheit und Abhängigkeit von der Bibel. Die ursprüngliche Regel des Karmel weist zwar Analogien und Abhängigkeiten von anderen normativen Texten auf, sie ist aber dennoch sehr stark geprägt von der Bibel und auf sie ausgerichtet. Und dies nicht nur, weil sie der Betrachtung und Meditation des Wortes Gottes so großen Wert beimißt, sondern auch weil die Heilige Schrift so oft zitiert wird (in einem Text von etwa tausend Wörtern zählt man wenigstens 30 Zitate) und auch wegen der Ausdrucksweise, die an manchen Stellen ausgesprochen "biblisches" Gepräge hat.

Ausgerichtet auf das Wort

Der Grund, weshalb der Gesetzgeber dem Wort Gottes so große Bedeutung beimißt, scheint vor allem die Sorge zu sein, das karmelitanische Leben ganz auf das "Wort" hin zu konzentrieren. Im mittleren Teil (Kapitel 8) heißt es nämlich: "Jeder soll in seiner Zelle oder in deren Nähe bleiben, Tag und Nacht im Gesetze des Herrn betrachtend" (vgl. Ps 77, 2-13; 119). Bei der Formulierung dieser Einladung werden verwandte Ausdrücke aus dem Buch Josua (1,8) und aus den Psalmen (1,2) entlehnt, wo die Tätigkeit des Meditierens mit dem hebräischen Verb hgh (in der Übersetzung der Septuaginta mit dem entsprechenden griechischen Ausdruck meletáo wiedergegeben) ausgedrückt wird, um die Beharrlichkeit und Ausdauer im Denken oder Überlegen einer Sache zu betonen. Übrigens wird die Ausdauer noch betont durch den typisch hebräischen Ausdruck "Tag und Nacht", um durch diese beiden Extreme ausdrücklich den Fleiß und die Beharrlichkeit zu unterstreichen. Es handelt sich nach Meinung des Gesetzgebers um eine betende und wachsame Meditation: "Im Gebete wachend" (vgl. Mk 14,38; Mt 26,41; 1 Petr 4,7; Eph 6,18). Die Konzentrierung der gesamten Lebensweise auf das "Wort" hat vor allem den Zweck, daß der Ordensmann wachsam sei und "feststehe im Glauben" (vgl. Mk 13,33-37; 1 Kor 16,13; 1 Petr 5,8-9), was besonders in Kapitel 16 - 18 nochmals festgehalten und weiter ausgeführt wird.

Auf diese dringliche Einladung kommt der Gesetzgeber wieder zu sprechen in Kapitel 16: "Das Schwert des Geistes aber, das Wort Gottes (vgl. Eph 6,17; Hebr 4,12) wohne überströmend in eurem Munde und in eurem Herzen" (vgl. Dtn 30,14), wo die Einladung bzw. der Wunsch aus dem Text von Kol 3,16 genommen wird und der Gebrauch des Zeitwortes "wohnen" uns verweist auf das im vierten Evangelium und in den Briefen des Johannes häufig behandelte Thema vom "bleiben" des Wortes Christi in Seinen Jüngern (vgl. Joh 5,38; 15,7; 1 Joh 2,14.24). Er schließt, indem er den paulinischen Text wieder aufnimmt, an dem er sich schon vorher orientiert hatte: "... und, was immer ihr zu tun habt, geschehe im Wort des Herrn" (vgl. Kol 3,17). Es ist darauf hinzuweisen, daß wir im entsprechenden Text des Heilige Paulus lesen: "Alles ... geschehe im Namen Jesu, des Herrn". Die Regel aber verwendet den Ausdruck: "im Wort des Herrn" und scheint damit ausdrücklich betonen zu wollen, daß die Karmeliten dieselbe Berufung haben wie jeder Christgläubige. Das neue Leben des Getauften ist der Raum, in dem die Person Christi selbst ihre Wirksamkeit entfalten kann, und darum muß alles getan werden "im Namen Jesu, des Herrn." Auch der Karmelit hat sich entschlossen, "in der Nachfolge Jesu Christi zu leben" (Kapitel 2), und findet hier die konkrete Möglichkeit, seinen Vorsatz zu verwirklichen: in einer besonderen und beharrlichen Vertrautheit mit seinem Wort zu leben. Dieses Wort muß - durch andauernde Meditation - zum privilegierten Ort werden, an dem der Ordensmann IHM begegnet. Auf diese Aufgabe konzentriert sich alles im Leben des Karmeliten, darum ist die Meditation nicht nur verpflichtend für den einzelnen, sondern für die ganze Kommunität (vgl. Kapitel 6).

An zwei anderen Stellen wird ebenso mit Nachdruck darauf hingewiesen, daß der Karmelit seine Aufmerksamkeit der Heiligen Schrift zuwenden soll. Die erste Stelle findet sich in Kapitel 17, wo der heilige Apostel Paulus als Vorbild für den Arbeitseifer vorgestellt wird.

Der gesamte Text aus 2 Thess 3,7-12 (vgl. aber auch 1 Thess 2,9-12) wird zitiert. Es heißt in der Regel: "Durch seinen (des heiligen Paulus) Mund" - dies wird ausdrücklich betont - "hat Christus gesprochen. Er ist von Gott als Prediger und Lehrer der Völker im Glauben und in der Wahrheit aufgestellt und gegeben worden," (wenn er also Vorbild ist, dann deswegen, weil er "ein Mann des Wortes Gottes" ist; leider - bekennt B. Secondin mit Recht - "scheint der Hinweis in der Geschichte der Auslegung der Regel keine Entwicklung durchgemacht zu haben. Aber vielleicht könnte heute die Anregung besser aufgenommen und ins Werk umgesetzt werden").

Die zweite Stelle finden wir in Kapitel 19, wo der Prior ermahnt wird, sich an das Wort des Herrn im Evangelium nach Markus zu erinnern und es in die Tat umzusetzen: "Wer bei euch groß sein will, der soll euer Diener sein, und wer bei euch der Erste sein will, der soll Sklave aller sein" (Mk 10, 43-44; vgl. Lk 22,26; Mt 20,26-27).

Verwurzelt im "Wort"

Von den zahlreichen ausdrücklichen Zitaten der Bibel im Text der Regel wurde schon oben gesprochen. Wir wollen uns nun ein wenig bei Texten aufhalten, die voll von biblischen Hinweisen sind, ohne die Heilige Schrift wörtlich anzuführen.

Das Kapitel 16 ist ohne Zweifel diesbezüglich von größter Bedeutung: wenn nämlich der Leser nur einigermaßen mit der Bibel vertraut ist, merkt er, daß es sich hier um eine authentische Collage von zahlreichen Texten der Heilige Schrift handelt, die in kluger Weise zu einer organischen Rede zusammengefügt sind. Das Kapitel beginnt mit einem Zitat aus Ijob 7,1, der fragt: "Ist nicht Kriegsdienst des Menschen Leben auf der Erde?" Im hebräischen Original wird das Leben des Menschen tatsächlich mit einem Militärdienst, einem Kriegswesen, verglichen. Die freie griechische Übersetzung der Septuaginta war dann der Anlaß, daß die alte lateinische Version das Wort "tentatio" (Versuchung, Erprobung) verwendete. Während die Bulle des Papstes Honorius III. - dem hebräischen Original getreu - den Ausdruck "militia" (Kriegsdienst) verwendete, ersetzte Innozenz IV. das Wort durch "tentatio" (Versuchung, Prüfung), das dann im lateinischen Text der Regel unverändert erhalten blieb. (Bild: Teilansicht der nördlichen inneren Mauer der Kirche. Eine dreilappige Säule ist sichtbar).

Wie dem auch sei, der Gesetzgeber verwendet das Zitat, um über die Prüfung zu sprechen und anschließend über die Notwendigkeit, wachsam zu sein. Wie wir sehen werden, bedient er sich explizit militärischer Metaphern, die er der Bibel entlehnt. Der Gedanke, daß das Leben eine Prüfung ist, wird durch weitere Hinweise auf biblische Aussagen noch mehr hervorgehoben. Leicht erkennbar ist der Zusammenhang mit 2 Tim 3,12 (denn wer Christus treu sein will, muß notwendigerweise mit ihm den Weg des Kreuzes und der Verfolgung gehen) und 1 Petr 5,8 (der bekannte Text, der vom Teufel, dem Widersacher, spricht und dabei die Metapher vom brüllenden Löwen verwendet, der umhergeht und sucht, wen er verschlingen kann).

Im Hinblick auf diese Realität gibt es nur eine Verteidigungswaffe: "Bemüht euch darum mit aller Sorgfalt, die Waffenrüstung Gottes anzulegen, damit ihr den Nachstellungen des Bösen widerstehen könnt." Die Bibel verwendet häufig das Symbol des Kleides; wenn sie sagt, man solle sich mit etwas bekleiden, meint sie nicht etwas rein Äußerliches, sondern eine innere Umkehr des ganzen Wesens der Person. In den Paulusbriefen ist oft davon die Rede (vgl. Röm 13,12; 1 Kor 15,53-54; 2 Kor 5,2-4; Gal 3,27; Eph 4,22-24; Kol 3,9-10.12; 1 Thess 5,8): für den Apostel ist der Weg des Christen, der durch die Taufe schon "Christus als Gewand angelegt hat" (vgl. Gal 3,27), dadurch gekennzeichnet, daß er sich fortwährend mit IHM bekleiden muß, indem er sich immer mehr von Seiner Kraft durchdringen läßt (vgl. Röm 13,14). Der vom Gesetzgeber angeführte Text stammt allerdings aus Eph 6,11.13. Im Kontext handelt es sich um eine Perikope des Briefes an die Epheser, die ausschließlich vom geistlichen Kampf spricht und die in der Geschichte des Mönchtums und der Spiritualität im allgemeinen ein so breites Echo gefunden hat.

Die Perikope beginnt mit der Einladung: "Werdet stark durch die Kraft und Macht des Herrn!" (Eph 6,10). Von Anfang an ist klar, daß die Waffenrüstung, die man anziehen muß, nicht irgendeine durch Willensanstrengung zu erwerbende Tugend ist, sondern die von Gott selbst ausgehende Kraft, das "neue Leben" in Christus. Der Apostel setzt den Vergleich, mit der Soldatenausrüstung fort und beschreibt die einzelnen Teile, aus denen die Waffenrüstung des Christen bestehen muß: aus dem Gürtel der Wahrheit (Eph 6,14), dem Panzer der Gerechtigkeit (6,14; vgl. Jes 59,17; Weish 5,18), der Bereitschaft, für das Evangelium vom Frieden zu kämpfen, als Schuhe (6,15; vgl. Jes 52,7) dem Schild des Glaubens (6,16; vgl. Weish 5,19), dem Helm des Heils (6,17; vgl. Jes 59,17) und dem Schwert des Geistes, das ist das Wort Gottes (6,17; vgl. Jes 49,2; Hebr 4,12). Die Regel übernimmt alle diese symbolischen Elemente, mit Ausnahme der Schuhe; warum diese nicht erwähnt werden, ist nicht leicht zu ergründen. Es könnte sein, daß der Gesetzgeber die Bibel aus dem Gedächtnis zitiert hat oder daß ihm der Vergleich mit den Schuhen nicht passend schien für die Verkündigung der Frohbotschaft, zumal für eine Gemeinschaft, die für einen eremitischen Lebensstil gegründet wurde. Was die übrigen Symbole betrifft, folgt die Regel ziemlich genau der Art und Weise des Paulus im Epheserbrief. Nur beim ersten Vergleich besteht ein ziemlich großer Unterschied. Paulus mahnt: "Gürtet euch mit Wahrheit" (6,14), die Regel aber spricht vom Gürtel der Keuschheit. Vielleicht geschieht dies im Einklang mit einer gewissen Strömung allegorischer Schriftauslegung, deren Vertreter einige Kirchenväter sind. Kurz und gut: wenn auch die kriegerisch-militärische Symbolsprache für unser modernes Empfinden unpassend scheint, sind wir dennoch aufgerufen, durch den Vergleich hindurch zu verstehen, daß die eigentlichen Waffen in Wirklichkeit mit dem Krieg im Gegensatz stehen und daß sie (wie die Seligpreisungen im Evangelium) so entwaffnend sind, wie man es sich kaum vorstellen kann. Einen ausdrücklichen Hinweis auf die Heilige Schrift finden wir - wenn auch mit weniger Nachdruck - in den folgenden Kapiteln 17 und 18 der Regel, in denen von der Arbeit und vom Stillschweigen die Rede ist. Das Kapitel über die Arbeit ist aufgebaut auf einem langen Zitat aus dem 2. Thessalonicherbrief (3,7-12), auf den sich alle monastischen Regeln berufen, wenn sie von diesem Thema sprechen. Die Originalität unserer Regel besteht darin, daß sie auch andere biblische Texte heranzieht und dadurch betont, wie sehr der Apostel Paulus ein nachzuahmendes Vorbild ist (vgl. 2 Kor 13,3; 1 Tim 2,7; 2 Tim 1,11; 1 Thess 2,9; 4,11).

Von besonderer Bedeutung ist das Kapitel über das Stillschweigen. Wenn es auch so aufgebaut ist, daß es einige praktische Normen vorschreibt (so etwa das "große Stillschweigen" vom Schluß der Komplet bis zum Ende der Prim), so ist die Grundaussage doch wieder mit biblischen Zitaten durchsetzt. Der Text aus 2 Thess 3,12 dient als Verbindungsglied mit dem vorhergehenden Paragraphen, aber dabei wird das im Original verwendete Wort "Ruhe" durch "Schweigen" ersetzt.

Der Apostel wollte nämlich die Thessalonicher einladen, in Ruhe zu arbeiten, ohne sich durch die vielen falschen Nachrichten von der unmittelbaren Wiederkunft des Herrn stören zu lassen. Auch die zitierten Texte aus Jes 30,15; 32,17 betonen diesen Aspekt. Der Prophet will seine Mitbürger davon überzeugen, daß die wirkliche Ruhe und der wahre Friede nicht vom aufgeregten Bemühen um menschliche Beziehungen kommen, sondern daß einzig und allein das Vertrauen und die Hoffnung auf den Herrn Rettung bringen. Denn Er erneuert Seinen Bund und bleibt seinen Versprechungen unwandelbar treu.

Wenn auch die drei Zitate offensichtlich nicht in ihrer eigentlichen Bedeutung des Originaltextes verwendet werden (bezüglich des Textes aus Jesaja zusätzlich nahegelegt durch die lateinische Übersetzung, die den Ausdruck "silentium" verwendet), ist es andererseits doch so, daß die Bedeutung der biblischen Texte auch in ihrem erweiterten Sinn sich in das Ganze einfügt und die beiden Kapitel über Arbeit und Stillschweigen ähnlich verstanden werden müssen wie das vorher Gesagte über den geistlichen Kampf: Wenn der wirkliche Kampf des Karmeliten darin besteht, die Waffenrüstung Gottes anzulegen, indem er sich ausschließlich der Treue Gottes überantwortet, indem er sich von Seiner Kraft durchdringen läßt, so werden die Hilfsmittel, nach denen er Ausschau halten muß, gerade in der Ruhe zu finden sein, in der Einfalt des Herzens, im Vermeiden der ängstlichen Sorge für das Morgen oder im Verzicht, sich allein mit seiner Hände Arbeit eine Welt unumstößlicher Sicherheit aufzubauen (vgl. Mt 6,25ff; 10,19; 13,22; Lk 10,41-42; 12,22ff; 21,14-15; Phil 4,6-7; 1 Petr 5,6-7). Geeigneter und auf das Thema Bezug nehmend sind hingegen die Zitate aus den Weisheitsbüchern. Hier konnte der Verfasser Sprichwörter, Grundsätze und Sprüche über den Wert des Schweigens mit vollen Händen schöpfen: "Bei vielem Reden", so schreibt er, "bleibt die Sünde nicht aus" (Spr 10,19); und weiter: "Wer seinen Mund aufreißt, den trifft Verderben" (Spr 13,3); es folgen weitere Zitate aus Sir 20,8; Mt 12,36; Sir 28,25-26; Ps 39,2, die das Thema direkt ansprechen.

Es werden aber auch Sir 22,27; 14,1 herangezogen. Aus all dem formt sich ein leidenschaftliches Eintreten für den Wert des Schweigens auf biblischer Grundlage. Den Abschluß bildet das zu Beginn des Kapitels angeführte Zitat aus Jes 32,17 mit der Einladung: "Er bemühe sich, das Stillschweigen, in dem die Pflege der Gerechtigkeit liegt", zu beobachten.

Hinter der ausdrücklichen Vorschrift, das Stillschweigen zu halten, spürt man zwischen den Zeilen den Wunsch, einen Lebensstil zu empfehlen, der ein "auf Gerechtigkeit" gegründetes Verhältnis der Treue zum Gott der Treue ermöglicht, der durch Sein Wort den Weg des Karmeliten lenkt und leitet.

Auch in bezug auf den Gehorsam dem Prior gegenüber finden wir ein direktes Zitat, diesmal aus der Frohbotschaft nach Lukas: "Wer euch hört, der hört mich, und wer euch ablehnt, der lehnt mich ab" (Lk 10,16). Von den Synoptikern ist Lukas der einzige, der in diesem Fall das Verb "hören" verwendet, während Matthäus (10,40) und Markus (9,37) davon reden, die Jünger bzw. ein Kind "aufzunehmen". Es könnte sein, daß der Gesetzgeber die Ausdrucksweise des Lukas der der übrigen Evangelisten vorgezogen hat, um auch bezüglich des Gehorsams besser das charakteristische Merkmal des Karmeliten zu betonen: er ist berufen, auf das "Wort zu hören"; denn um dieses Zentrum muß seine persönliche geistliche Erfahrung kreisen (Kapitel 8). Er ist ebenso gerufen, aus dem Gehorsam dem Prior gegenüber die menschlich sichtbare Mittlerrolle zu machen, indem er dieses "Hören" übt und mehr auf Christus schaut als auf die Person des Priors.

Durchdrungen vom "Wort"

Bis jetzt war die Rede von den ausdrücklichen Hinweisen auf die Heilige Schrift. Wenn man aber zwischen den Zeilen der Regel zu lesen versteht, entdeckt man eine große Zahl weiterer Anspielungen, die mehr oder weniger ins Auge fallen. Schon die Art und Weise, die Bibelstellen anzuführen (dem Gedächtnis nach, verschiedene Stellen zusammenfügend und manchmal auch sinngemäß anpassend), beweist eine umfassende und gründliche Kenntnis der Schrift. Die Übung der "lectio divina", die im Kapitel 8 empfohlen wird, war auch die Grundlage beim Zusammenstellen und Niederschreiben der Regel. Der Autor hat das Wort Gottes so sehr in sich aufgenommen, daß es ihm zur zweiten Natur geworden ist. Darum "denkt er biblisch" und formuliert konkrete Verhaltensweisen für eine Gruppe von Eremiten, die schon in dieser dauernden Vertrautheit mit dem "Wort" leben. Biblische Hinweise werden zuweilen so verwendet, daß ihrem ursprünglichen Wortsinn Gewalt angetan wird, um sie dem gerade behandelten Thema in der Regel anzupassen.

Trotzdem hat man nicht den Eindruck, daß das Geschriebene gekünstelt oder unangebracht wirkt, im Gegenteil: diese Anklänge an die Bibel sind geschickt und leicht dahinfließend eingefügt in die organisch zusammenhängende Darlegung.

Schon im Prolog (Kapitel 1 und 2) erspürt man einen bedeutsamen biblischen Untergrund: Wenn man in den ersten Zeilen des Dokumentes die am Anfang stehende Grußformel liest, hat man den Eindruck, es mit einem der paulinischen Briefe zu tun zu haben (man denke z. B. an Röm 1,1-7; 1 Kor 1,1-3; 2 Kor 1,1-2; Phlm 1). Was jedoch den ausgesprochen biblischen Klang des Prologs bewirkt, ist der offensichtliche Hinweis auf Hebr 1,1-2: "Viele Male und auf vielerlei Weise hat Gott einst zu den Vätern gesprochen durch die Propheten; in dieser Endzeit aber hat Er zu uns gesprochen durch den Sohn, den Er zum Erben des Alls eingesetzt und durch den Er auch die Welt erschaffen hat." Die Absicht des vom Heiligen Geist inspirierten Schriftstellers ist es, sowohl die Herrschaft Christi hervorzuheben, als auch die Neuheit und absolute Einmaligkeit der christlichen Offenbarung im Vergleich zum alten und vielgestaltigen Bund zu betonen. Mit einer gewissen Kühnheit und mit rhetorischer Kunstfertigkeit, die dem Prolog eine ganz besondere Feierlichkeit und Sinnfülle verleihen, entlehnt die Regel dieselben Ausdrücke, indem sie die Väter des alten Bundes durch die Vorfahren des religiösen und monastischen Lebens ersetzt und an Stelle der Vielfalt alttestamentlicher Offenbarungen von den verschiedenen Formen religiösen Lebens in der Kirche, an Stelle der neuen Offenbarung in Christus von der neuen Lebensform spricht. Es ist, als wolle man in diese ganz besondere Gruppe der Eremiten, die berufen sind, "in der Nachfolge Jesu Christi zu leben und IHM treu, mit reinem Herzen und gutem Gewissen zu dienen" (entsprechend einem bewährten Ideal mittelalterlicher Frömmigkeit) die gesamte Heilsgeschichte, die im Fleisch gewordenen Wort zusammengefaßt ist, übertragen und einpflanzen. Der Gesetzgeber scheint die Eremiten auf dem Berg Karmel ganz ausdrücklich auf die absolute Abhängigkeit vom geoffenbarten Wort hinweisen zu wollen, indem er sie einlädt, ihre besondere Lebensform als Gegenwärtigsetzung eben dieser Offenbarung zu bejahen. All das gewinnt eine noch größere Bedeutung, wenn wir im Prolog noch weitere Texte als Echo aus dem Alten und Neuen Testament entdecken, so z. B. Ps 24,3-4; 2 Kor 10,5; 1 Tim 1,5.19; 1 Petr 1,22.

Auch der Epilog der Regel (Kapitel 21) erinnert in einer Art "biblischer Zusammenfassung" an das abschließende Grußwort einiger Briefe aus dem Neuen Testament (vgl. Hebr 13,22; 1 Petr 5,12), während die Aufmunterung am Schluß: "Will aber einer noch mehr tun, dann wird es ihm der Herr vergelten, wenn Er wiederkommt" (Epilog) auf die Empfehlung des Paulus im Brief an Philemon (21) oder auf die Großherzigkeit des guten Samariters in Lk 10,35 verweist.

Neuere Studien haben die große Bedeutung hervorgehoben, welche die Erinnerung an die Urkirche (oder besser, die planmäßige Idealisierung, die Lukas in seiner Apostelgeschichte bewirkt hat) beim Entstehen neuer Reformbewegungen - auch Andersgläubiger - gehabt hat.

Diese Bewegungen sind im Lauf der Kirchengeschichte immer wieder aufeinander gefolgt, ebenso in den religiösen Gemeinschaften, vor allem in den zönobitischen. In der Epoche der Kreuzzüge ist diese Tatsache noch auffallender, weshalb man mit Recht versucht hat, auch in der Regel der Karmeliten diese Inspiration (innere Antriebskräfte) zu suchen. Das Bild der ersten christlichen Gemeinschaft, von der es heißt: "Die Gemeinde der Gläubigen war ein Herz und eine Seele" (Apg 4,32), ist sicher die Grundlage für die Entstehung des brüderlichen Zusammenlebens, wie die Regel es vorschreibt. Und weil die gemachten Versprechungen in die Tat umgesetzt werden müssen (Kapitel 3; vgl. 1 Joh 3,18; Jak 1,22; Mt 7,21), wird dieses Einssein der Herzen seinen Ausdruck finden in einer Gemeinsamkeit der irdischen Güter: "Keiner nannte etwas von dem, was er hatte, sein Eigentum, sondern sie hatten alles gemeinsam ... [ ] Es gab auch keinen unter ihnen, der Not litt. Denn alle, die Grundstücke oder Häuser besaßen, verkauften ihren Besitz, brachten den Erlös und legten ihn den Aposteln zu Füßen. Jedem wurde davon so viel zugeteilt, wie er nötig hatte" (Apg 4,32-35; vgl. 2,44-45). Dies ist der Rahmen, in den Kapitel 19 der Regel gestellt werden muß, das von der Armut und vom gemeinschaftlichen Besitz handelt. Auch Kapitel 6 über die gemeinsame Mahlzeit, Kapitel 8 über das Hören auf das "Wort", Kapitel 9 über das Gebet und Kapitel 12 über die tägliche Eucharistiefeier scheinen das lukanische Modell in Apg 2,42.46-47 als Vorbild genommen zu haben.

Der eventuelle direkte Einfluß des apostolischen Vorbildes auf die Regel sollte untersucht, vertieft und am Text selbst aufmerksam nachgeprüft werden. Zeugnisse von außen (Gebräuche, Sitten, Lebensweise) könnten hinzugezogen und verglichen werden. Doch die Anmaßung, den Einfluß des Vorbildes mit dem ganzen Aufbau der Regel gleichzusetzen, käme einer falschen Interpretation und einer Verkennung der Absicht des Verfassers gleich.

Wenn wir nun nochmals mit Aufmerksamkeit den Text der Regel durchgingen, könnten wir viele andere Beweise der offensichtlichen Vertrautheit mit der biblischen Welt entdecken. Man könnte in der Vorschrift, inmitten der Zellen eine Kapelle zu errichten (Kapitel 12), eine Parallele finden zu Ezechiel 48,1-29, der das Land unter die 12 Stämme verteilt: "In der Mitte ... liegt das Heiligtum" (8). Andere Vergleichspunkte im erwähnten Text - allerdings äußerst willkürliche - könnten vielleicht einen gewissen Einfluß auf die Regel ausgeübt haben. Beim Schlußsatz von Kapitel 17 der Regel: "Dieser Weg ist heilig und gut. Ihn sollt ihr gehen", könnte man an eine Metapher und an einen Ausdruck echt biblischer Prägung denken (vgl. Jes 30,21; Mk 7,5; Joh 14,4-6; Röm 6,4; Gal 5,16; Eph 4,1).

In der Regel wird betont, daß das Leben des Menschen eine Prüfung, eine Versuchung ist, der man mit den Waffen der Taufgnade widerstehen muß. Könnte man im Hintergrund nicht die Versuchung des Herrn in der Wüste sehen, die Markus in enger Beziehung zur Taufe sieht (vgl. Mk 1,9-13) und die im Bericht des Matthäus überwunden wird mit dem Hinweis auf das Wort Gottes (vgl. Mt 4,1-11; 2 Tim 3,14-17)? Und warum nicht zwischen den Zeilen des an Zitaten so reichen Kapitels 16 der Regel das biblische Thema der Wüste als Ort der Prüfung entdecken? ... Die Liste dieser möglichen Parallelen ließe sich noch lang weiterführen. Jeder Text wäre ein weiterer Beweis - der nach all dem, was wir gesehen haben, vielleicht überflüssig ist - für den engen Zusammenhang zwischen Regel und Bibel. Der Zusammenhang ist so eng und so offensichtlich, daß es nicht übertrieben ist zu behaupten: das Wort Gottes ist die hauptsächliche Quelle (wenn auch nicht die einzige), an der sich die Regel orientiert, indem sie mit vollen Händen aus ihr schöpft.

Kurz, einfach und auf das Wesentliche beschränkt ist unsere Regel, nicht zugänglich für oberflächliche Neuerungen und sich nicht verlierend in nutzlosen oder phantastischen Einzelheiten. Sie ist ganz ausgerichtet auf die Nachfolge Christi, das einzige Wort des Vaters, und verwendet eben dieses Wort, um die Karmeliten einzuladen, auf das Wort zu hören, zu schweigen, um es immerfort im Inneren zum Klingen zu bringen (vgl. Hab 2,20; Sach 2,17). Dies ist der lebensspendende Atem, die kostbare Perle, der bessere Teil, der nicht genommen wird, das einzig Notwendige (vgl. Lk 10,38-42).

ZurückNächste Seite